Krieg im Unterricht: Der Elefant im Klassenraum
Seit sieben Monaten stehen Schulen vor der Frage, wie sie den Krieg in der Ukraine thematisieren. Ein Besuch in einer deutsch-russischen Europaschule.
Als der Bezirksbürgermeister des Berliner Stadtteils Lichtenberg am vergangenen Freitag in der Aula seine Glückwünsche überbringt, geht es zwar auch um das 30-jährige Jubiläum der Schule. Er spricht aber auch von Krieg und Frieden und die Verantwortung der Europaschulen: „Friedliches Zusammensein wird in der Schule gelernt. Es muss im Kleinen wie auch in der großen Politik gelingen“, mahnt der Kommunalpolitiker der Linkspartei.
Seit nun fast sieben Monaten, seit Russland die gesamte Ukraine angegriffen hat, fühlt sich die deutsch-russische Schule in eine Erklärungsnot gedrängt, die für sie nicht nachvollziehbar ist. „Natürlich sind wir gegen den Krieg. Wir verfolgen eine Friedensbildung im Unterricht“, betont Rektorin Helene Hartmann. Die Schule hat schließlich keine Verbindung zur russischen Regierung, so Hartmann, lediglich die russische Sprache wird hier gelernt. Die Lew-Tolstoi-Grundschule ist eine Staatliche Europaschule. Hier lernen Kinder auf Russisch und auf Deutsch.
Helene Hartmann, Rektorin der Lew-Tolstoi-Grundschule
Das Konzept der Europaschulen gibt es seit 30 Jahren. Die Lew-Tolstoi-Schule gehört von Anfang an dazu. Eltern aus allen Ländern, die zur ehemaligen Sowjetunion gehörten, schicken ihre Kinder hierher. Aktuell sind es rund 650 Schüler*innen, in zwölf Klassen wird bilingual unterrichtet. „Hier lernen schon immer ukrainische, russische, kasachische Kinder zusammen“, sagt Hartmann. „Erst jetzt werden sie von außen auseinanderdividiert.“
Aus Sicherheit lieber nichts sagen
Wenige Tage vor dem Festakt mit Sekt und Hüpfburg hat Hartmann die taz zu einem Gespräch eingeladen. Keine Selbstverständlichkeit. Die russischen Europaschulen wollen derzeit nicht unbedingt in die Öffentlichkeit. Die anderen beiden mit Schwerpunkt Russisch wollen sich nicht zur aktuellen Situation in der Ukraine äußern.
Selbst der Berliner Senat beantwortet keine Fragen zu Hilfen und möglichen Konflikten in den Schulen. In ihrem Büro erklärt die Rektorin der Tolstoi-Grundschule die Zurückhaltung folgendermaßen: „Wir wollen die Kinder schützen. Die Kinder haben hier oberste Priorität.“ Kurz nachdem Russland die gesamte Ukraine angriff, hätten Eltern ihren Kindern geraten, auf dem Schulweg kein Russisch zu sprechen. Ihre Sätze wählt Hartmann mit Bedacht, das Thema ist aus ihrer Sicht heikel.
Immer wieder ist es in Deutschland zuletzt zu Angriffen gekommen, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stehen. Erst vor ein paar Wochen wurde in Leipzig versucht, eine Kita anzuzünden, in der ukrainische Kinder betreut werden. In Berlin gab es im März einen Brandanschlag auf die russisch orientierte Lomonossow-Schule. Nach dem Vorfall fuhr vor der Lew-Tolstoi-Grundschule für einige Wochen eine Polizeistreife.
Laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes haben sich in den vergangenen sechs Monaten 284 Ratsuchende mit russischen, belarusischen und ukrainischen Wurzeln an sie gewendet. Die ethnische Herkunft wird eigentlich nicht abgefragt. Hier gaben die Betroffenen sie freiwillig an. Ein Sprecher betont aber, dass viele der Anfragen zu nicht selbst erlebter Diskriminierung erfolgten, sondern zu im Internet geschilderten Fällen. Diese könnten nicht überprüft werden. Das Bundesinnenministerium meldet insgesamt rund 4.300 strafrechtlich relevante Ereignisse im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, darunter über 400 Gewaltdelikte.
Der Krieg beeinflusst den Unterricht
Der Krieg in der Ukraine hat Einfluss auf das Schulleben in Deutschland. In vielen Fällen haben Familien mit ukrainischen Wurzeln ihre Verwandten aufgenommen, die geflohen sind. Andererseits müssen Lehrer*innen plötzlich Kindern mit russischen Wurzeln erklären, dass sie nicht am Krieg Schuld haben. Auch an der Tolstoi-Schule gibt es unterschiedliche Positionen zum Umgang mit dem Krieg. Das sei auf Elternsprechstunden klar geworden, sagt Klassenlehrerin Claudia Zimmermann. „Die Eltern aus den Regelklassen wollten mehr, sie wollten sich stark nach außen positionieren – bis eine Mutter, die aus der Ukraine stammt, anfing zu weinen und meinte, dass doch die Kinder nicht täglich mit dem Krieg konfrontiert werden müssen.“
Einmal sei es auch im Unterricht zu einem Vorfall gekommen, erinnert sich Zimmermann, die in den sechsten Klassen Deutsch und Englisch unterrichtet und auch Russisch spricht. „Ich weiß nicht, warum der Schüler provozieren wollte. Er malte Panzer, Kriegsszenen“, erzählt die Lehrerin. Mitschüler*innen hätten geweint und sich beschwert.
Rektorin Hartmann betont, dass solche Vorfälle nur vereinzelt vorkommen. Im Kollegium stünden alle hinter der Friedenspolitik der Schule. „Die Schule ist neutraler Boden. Wenn der Krieg in der Ukraine von den Kindern thematisiert wird, dann sprechen wir darüber, versuchen zu erklären. Wir agieren so, wie es den Bedürfnissen und vor allem dem Alter der Kinder entspricht“, erklärt Hartmann, die in Kasachstan aufgewachsen und mit 16 Jahren nach Deutschland gekommen ist. Nach dem Vorfall in Zimmermanns Klasse hat die Schule sofort den Dialog mit den Schüler*innen und Eltern gesucht. Zudem machte die Klasse mit der Schulsozialarbeiterin eine Stunde zum Thema Krieg und Frieden, um alle daran zu erinnern, dass sie hier in Frieden zusammenleben und miteinander reden können. Das habe geholfen.
Direkte Positionierung gegen den Krieg
Ähnliche Erfahrungen im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine machen auch andere Schulen. Am Berliner Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium, auf das auch Schüler*innen mit russischem Hintergrund gehen, malte ein Siebtklässler vor den Sommerferien das Z-Symbol in seine Federtasche. So erzählt es ein Elternteil der taz. Von diesem konkreten Vorfall hat Direktor Martin Wagner nach eigener Aussage nichts gehört. Auch gab es, laut ihm, keine vergleichbaren Fälle am Gymnasium.
Gleich zu Beginn hat sich die Schule klar gegen den Krieg positioniert. Am Telefon versichert Wagner, dass die Politik- und Geschichtslehrer*innen von Anfang an über den Krieg aufgeklärt hätten. „Es ist wichtig, dass die Lehrkräfte den Jugendlichen helfen, Medienberichterstattung und Informationen aus dem Internet einzuordnen, sodass die Kinder hier keine Angst haben müssen.“ In den Klassen, in denen Kinder Eltern aus Ländern haben, die zur ehemaligen Sowjetunion gehörten, seien sie besonders vorsichtig mit dem Umgang gewesen. Gegen die Friedensposition am Herder-Gymnasium hätte aber niemand etwas einzuwenden, sagt Wagner. Von den Eltern sei zurückgekommen, dass sie sich damit wohlfühlten.
30 ukrainische Kinder aufgenommen
Auch in der Lew-Tolstoi-Grundschule muss das Kollegium im Unterricht nur selten eingreifen. Die Friedenserziehung funktioniert. Die Schule will keine Symbolpolitik betreiben, sie will wirklich helfen, wo sie kann. Im April 2022 nahm die Schule freiwillig 30 ukrainische Kinder auf. Sie lernen in allen sechs Klassenstufen. „Es ergibt ja auch Sinn, dass wir so viele Kinder aufnehmen. Hier wissen wir, wie Integration funktioniert, das machen wir schließlich jeden Tag“, erzählt Hartmann, die selbst eine Familie aus Odessa bei sich aufgenommen hat. Für die neuen ukrainischen Schulkinder gab es ein kleines Willkommensfest, die Eltern konnten sich untereinander und mit anderen Eltern vernetzen, Tipps austauschen. Die Kinder bekamen voll ausgestattete Startersets für die Schule, für die alle Eltern der Schule großzügig gespendet haben.
Die Konrektorin Evelyn Tonk hat die Materialien persönlich besorgt: „Mein Mann und ich sind einen Tag lang alle Läden abgefahren.“ Tonk unterrichtet selbst in den ersten und zweiten Klassen. Bei den ganz kleinen Kindern muss man sehr sensibel mit dem Thema Krieg umgehen. Als auch in Tonks zweiter Klasse ein ukrainischer Junge aufgenommen wurde, hat sie ganz vorsichtig vom Krieg erklärt, die Kinder sanft auf ihren neuen Mitschüler vorbereitet. Was danach passierte, rührt die Lehrerin auch heute noch fast zu Tränen: „Als sich der Junge dann vorgestellt hat, ist einer aus der Klasse vorgegangen, hat ihm die Hand gegeben und ihn auf Russisch willkommen geheißen.“ In dieser Klasse sprechen die Kinder normalerweise kein Russisch.
Transparenzhinweis: Die Autorin war von 2005 bis 2011 Schülerin an der Lew-Tolstoi-Grundschule.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja