Dominic Johnson über Massengräber in Isjum
: Das Grauen hat System

Butscha. Irpin. Borodjanka. Jetzt Isjum. Die Liste der Orte des Grauens in der Ukraine wird immer länger. Wieder einmal finden ukrainische Truppen in einem von der russischen Besatzung befreiten Ort Massengräber und Leichen mit unzweideutigen Folterspuren.

Das hat System. Die gefesselten Leichen von Butscha waren kein Sonderfall. Russische Besatzung bedeutet in der Ukraine, dass Menschen getötet werden – nicht nur an der Front, sondern auch hinter der Front, im okkupierten Gebiet. 2021 sprach Russlands Präsident Wladimir Putin der Ukraine die Existenzberechtigung ab. 2022 exerzieren Russlands Soldaten an einzelnen Menschen vor, was das heißt.

Die Toten von Isjum wären noch am Leben, wenn Russland Isjum nicht erobert hätte. Russland hätte Isjum nicht erobert, wenn die Ukraine es im Frühjahr hätte halten können. Heute ist die Ukraine stärker, und Russlands Armee wurde wieder verjagt. Dazwischen liegen fünf Monate Horror. Die Toten von Isjum sind auch Opfer der Bremser im Westen, die zu lange mahnten, man dürfe Moskau nicht provozieren.

Und nun wird wieder vor einem Atomschlag gewarnt, falls sich Russland in die Defensive gedrängt fühlt. Es ist derselbe gedankliche Irrtum: Man denkt, Putins Verhalten ließe sich vom Westen her steuern, und man müsse hier nur das Richtige tun und sagen, damit er wieder lieb ist. Als ob Russlands Präsident nicht autonom denken und entscheiden könne.

Die Erfahrung zeigt: Putin eskaliert Konflikte, wenn er sich in einer Position der Stärke sieht. Kompromissbereit wird er in Zeiten der Schwäche. Derzeit ist Russland schwach, das besetzte Gebiet in der Ukraine schrumpft jede Woche. In Russland wächst die Unruhe, auch im Militär. Ob ein Befehl Putins zum Einsatz von Atomwaffen überhaupt befolgt werden würde, ist unsicher. Das eröffnet Chancen. Der Ukraine sollte geholfen werden, diesen Krieg vor dem Winter zu gewinnen. Damit nicht 2023 frische Leichenberge ausgegraben werden müssen.

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