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Historische Medaille im TurnenSolo für das Team

In der deutschen Riege werden die Turnerinnen an allen Entscheidungen beteiligt. Der Lohn für diese Praxis der Mitbestimmung ist Bronze bei der EM.

Maximale Konzentration: Elisabeth Seitz punktet für das deutsche Team am Stufenbarren Foto: reuters

München taz | Es gibt im Sport manchmal solche Momente: Momente, in denen man unweigerlich den Eindruck gewinnt, der Ablauf eines Wettbewerbs folge einem Drehbuch. Das Teamfinale der Turnerinnen bei der EM in München, das mit der ersten Medaille für ein deutsches Team in der Historie dieses Wettbewerbs endete, war ein solcher Moment. Eine EM vor heimischem Publikum, der letzte Auftritt von Kim Bui, ein idealer Einstand für Bundestrainer Gerben Wiersma. „Es ist großartig“, sagte der Niederländer: „Ich freue mich unglaublich für die Turnerinnen und auch für die anderen Trainer, es ist ein wunderbares Team.“

Das Team – um dieses Wort herum war das Drehbuch für den Samstagnachmittag konzipiert. Dabei ist Turnen ja gerade keine Mannschaftssportart, eine ohne Pässe, ohne Spielzüge. Es wird auch kein Staffelstab übergeben, der in anderen Disziplinen aus Solisten zumindest für den Moment ein voneinander abhängiges Ensemble formt. Die Turnerin betritt allein das Podium und präsentiert ihr Können. Ein Teamwettbewerb wird das Ganze nur dadurch, dass am Ende die Summe der einzeln abgelieferten Leistungen addiert wird. So ist es zumindest auf dem Papier.

Dass die Realität komplexer ist, das erklärten die deutschen Turnerinnen im Anschluss: „Wir haben uns gegenseitig durch den Wettkampf getragen“, formulierte es eine überglückliche Kim Bui. Dass es ausgerechnet für sie – die immer Teamplayerin und so gut wie nie erfolgreiche Solistin war – bei ihrem letzten Wettbewerb die erste Teammedaille gibt – fast eine zu perfekte Pointe in einem Drehbuch. „Jeder wusste, dass sein Rücken durch das Team gestärkt wird, das war heute ausschlaggebend“, urteilte Pauline Schäfer, die mit einer weltmeisterlichen Balkenübung beeindruckte.

Elisabeth Seitz erklärte es so: „Klar, sobald man aufs Podium geht, steht man da alleine. Aber wenn man weiß, dass das ganze Team hinter einem steht, dann ist das so ein wahnsinnig gutes und beruhigendes Gefühl, dass die Übung einfach noch besser läuft.“ Sarah Voss, der am Ende des Wettkampfs ihr Sprung gelungen war, sagte: „Ich hatte vom ersten Schritt bis zur Landung das Gefühl, dass mein Team mich da durchschreit und mich schweben lässt.“

Spannung bis zum Sprung

Am letzten Gerät hatte es auch nicht an filmreifer Spannung gefehlt: An Italiens Überlegenheit bestand kein Zweifel, aber die Entscheidung um die Plätze dahinter fiel mit den letzten drei Übungen. In solchen Momenten ist, auch das mag kurios anmuten, die richtige Strategie gefragt. Was können die anderen zeigen? Was muss man riskieren, um im Spiel zu bleiben?

Im konkreten Fall: Soll die durch eine Wadenverletzung gehandicapte Sarah Voss ihren Jurtschenko-Sprung mit einer oder zwei Längsachsendrehungen anmelden. Eine Drehung, die acht Zehntelpunkte im Schwierigkeitswert bedeutet. „Unsere Strategie ist voll aufgegangen.“ Gerben Wiersma wirkte ein wenig erleichtert. Er wusste um die deutlich schwierigeren Sprünge der Französinn. „Wir haben entschieden, es zu versuchen, das war wirklich aufregend.“

Gerben Wiersma verfolgt ein Konzept, in dem dieses „Wir“ im Teamwettbewerb eine entscheidende Rolle spielt. „Ich mache die Vorschläge, und dann besprechen wir das gemeinsam, insbesondere was die Reihenfolge am Gerät betrifft, denn ich will, dass die Turnerinnen sich in ihrer Rolle wohlfühlen.“ So war es dazu gekommen, dass Emma Malewski an zwei Geräten als erste Turnerin startete.

Die mit 18 Jahren Jüngste hatte diese schwierige Aufgabe nach ein wenig Bedenkzeit angenommen und bravourös gemeistert. „Ich bin gern am Anfang dran, dann ist es vorbei“, hatte sie erklärte. Am Samstag blickte Emma immer wieder ungläubig auf diese Medaille. Auf Nachfrage bekräftigte Wiersma: „Ja, die Turnerinnen werden in alle wichtigen Entscheidungen einbezogen.“ Eine klare Haltung, nicht zuletzt angesichts der jüngsten Debatten über grenzüberschreitendes Trainerverhalten im Frauenturnen. Eine Haltung, die in Zukunft in keinem Drehbuch fehlen sollte.

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