: Solidarität abschrecken
In Europa werden immer mehr Menschen kriminalisiert, die Flüchtenden helfen
Von Christian Jakob
Anfang März 2022: Kurz nach Russlands Überfall auf die Ukraine vertreiben die belarussischen Behörden Hunderte von Migrant*innen aus einem behelfsmäßigen Lager im Grenzdorf Bruzgi. Die Menschen versuchen, die Grenze nach Polen zu überqueren und stranden in der Regel völlig entkräftet im Wald. Wer ihnen hilft, kommt ins Gefängnis: 13 Aktivist*innen, die zum Teil lebensrettende Hilfe am Grenzstreifen leisten, werden von der polnischen Polizei verhaftet. Ihnen wird „Beihilfe zur illegalen Migration“ vorgeworfen, es drohen acht Jahre Haft. Mit Ausnahme eines italienischen Staatsangehörigen wurden zwar alle von ihnen vorerst wieder freigelassen – das Verfahren gegen sie ist aber weiter anhängig. In der Grenzregion sind seit September 2021 etwa 30 Flüchtlinge unter teils ungeklärten Umständen gestorben, oft an Unterkühlung und Entkräftung.
Der Fall ist eines von 89 Beispielen aus einer von den Grünen im EU-Parlament in Auftrag gegebenen Studie der NGO Picum. Sie zeigt: Wer Flüchtenden hilft, muss in der EU immer öfter mit Strafverfolgung rechnen. Die 89 betroffenen Helfer*innen wurden in EU-Staaten zwischen Januar 2021 und März 2022 kriminalisiert. In den allermeisten Fällen ging es darum, dass sie Flüchtenden Nahrung, Unterkunft, medizinische Hilfe oder Transportmittel zur Verfügung stellten, bei ihren Asylanträgen halfen – oder aus Seenot retteten. Die Folge: Ermittlungen oder Anklagen wegen Beihilfe zur Einreise, Durchreise oder zum Aufenthalt oder der Schleusung von Migranten*innen. Nicht immer kommt es zu Verurteilungen, viele der Fälle sind weiter anhängig – aber längst nicht alle hat Picum überhaupt erfassen können. Es zeigt sich ein klarer Trend: Europas Abschottung soll flankiert werden durch Einschüchterung jener, die Solidarität üben. „Das soll abschrecken und dafür sorgen, dass die Flucht nach Europa lebensgefährlich und menschenunwürdig bleibt,“ sagt der Grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt. Er fordert einen besseren Schutz von Helfer*innen. „Wenn die Helferinnen und Helfer schon Aufgaben übernehmen, für die sich die Staaten nicht mehr verantwortlich fühlen, dann sollten sie dafür staatliche Gelder erhalten,“ so Marquardt. Die Ampel sollte dazu „humanitäre Projekte an den Außengrenzen unterstützen“. Viel härter geht die Justiz aber gegen Geflüchtete selbst wegen angeblicher Schlepperei vor. Hier häuften sich zuletzt vor allem in Griechenland Urteile mit teils dreistelligen Haftjahren. Es sei „besorgniserregend, dass die Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger:innen, die selber Geflüchtete sind, noch weniger bekannt ist“, heißt es dazu in der Studie.
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