: Splitter seines Denkens
Vor 130 Jahren kam Walter Benjamin im Tiergartenviertel zur Welt. Dort erinnerte eine Lesung an seine Beobachtungslust
Von Katrin Bettina Müller
Auf den Tag genau fand 130 Jahre nach Walter Benjamins Geburt als Sohn eines Antiquitätenhändlers aus Berlin-Tiergarten am 15. Juli 1892 in der St. Matthäikirche eine Lesung statt, die mit vielen Facetten an den Kulturkritiker und Großstadtexegeten erinnerte. Die Matthäikirche ist eines der wenigen historischen Bauwerke des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Tiergartenviertels, die aus Benjamins Zeit noch steht. Wie ein Splitter aus der Vergangenheit rage sie in die Gegenwart, sagte Hannes Langbein, Direktor der Stiftung St. Matthäus, die das vielfältige Kulturprogramm in der Kirche betreibt. Seit 2012 erinnert dort eine Raumarbeit von Micha Ullman an die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten aus dem Tiergartenviertel: Durch eine Glasplatte im Boden blickt man auf eine Treppe, die nirgendwohin führt und an einer Wand endet.
Micha Ullman hat auch die leere Bibliothek auf dem Bebelplatz entworfen, die an die Bücherverbrennung 1933 erinnert, an die vertriebenen und ermordeten AutorInnen, ihre verbotenen und an die nie geschriebenen Bücher. Betroffen davon war auch Benjamin, der zunächst noch nach Spanien fliehen konnte, sich in Portbou aber 1940 das Leben nahm.
Der Leseabend in der Kirche ist ein Kaleidoskop, jede/r der 14 Vortragenden hat seinen Text selbst gewählt. Die Schriftstellerin Kerstin Hensel suchte sich einen Essay von 1929 über das Berlinische aus, auf der Suche danach, wie das Berlin zu Benjamins Zeiten geklungen hat. Als genauer Beobachter des Alltags schrieb Benjamin mit einer spürbaren Bewunderung über die Zeit, die man sich im Berliner Dialekt beim Schimpfen ließ, und den Einfallsreichtum der Sprachbilder. Einer Drohung, jemand alle Zähne auszuschlagen, folgte so der Satz, aber einen Zahn stehen zu lassen für den Schmerz.
Philosoph Marcus Steinweg trat als Einziger ohne Buch und Zettel vor das Mikrofon und füllte seine zehn Minuten mit einem Vortrag über die Kraft von Benjamins Denkbildern, die unter anderem die Unmöglichkeit einer eindeutigen Trennung von Philosophie und Literatur anzeigten. Er redete über Gespenster, deren Existenz nicht zu bestreiten Benjamin mit Franz Kafka und Robert Walser verbinde. Alle drei hätten sich von der „Erwachsenen-Illusion“ verabschiedet, dass es Gespenster nicht gebe. Worauf es aber ankomme, sei, zu entscheiden, welchen Gespenstern man die Tür zu den eigenen Denkräumen öffne und welche man draußen halte. Selbstverständlich flog auch Benjamins viel zitierter „Engel der Geschichte“ durch das Kirchenschiff, und wenn der Trümmerhaufen der Vergangenheit, der vor seinen Augen unablässig wächst, zitiert wurde, dachte man auch an den Krieg in der Gegenwart. Aber spannender wurde der Abend mit den unbekannteren Texten, wie etwa der Besprechung einer Ernährungsmittelmesse mit besonders euphemistisch betitelten Kriegsmarken.
Autor Robert Mießner hob ein Plattencover hoch von den Einstürzenden Neubauten von 1983, denn darüber war er zuerst mit Benjamin, dessen Studie über den destruktiven Charakter bekannt geworden. Er las aus einem Protokoll Benjamins nach der Einnahme von Haschich vor, eine durchnummerierte Liste von Wahrnehmungsverschiebungen, die schon durch ihre Akribie sehr lustig ist, gelebtes Dada gewissermaßen.
Kulturjournalistin Irina Rastorgueva las aus Benjamins „Moskauer Tagebuch“ von 1926/27. Der Stalinismus und seine Feindlichkeit gegenüber den revolutionären Kunstströmungen schon zu spüren beim Moskaubesuch, die Anziehungskraft des Kommunismus auf den linken Theoretiker Benjamin schon gebrochen. Im vorgelesenen Abschnitt beschrieb er Lenin-Ecken, Wandzeitungen und Plakate, die als volkserziehende Maßnahmen eingesetzt waren und ihn mit einer Fröhlichkeit beeindruckten, die als Grundstimmung der Kollektive behauptet wurde.
Ihre konkrete Gegenständlichkeit, ihre Farbigkeit, ihre visuellen Mittel – das konnte er nicht einfach ideologiekritisch beiseitewischen, das musste erst genau betrachtet und beschrieben werden.
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