Fliegen und dafür Bäume pflanzen

Weitermachen als Trio infernale: Die Hamburg-Berliner Band Raison bietet auf ihrem Debütalbum „So viele Leute wie möglich“ driftende Musik zum „Nebenbeihören“

Die Sehnsucht nach dem Kollektiv ist noch da: (v.l.) Mense Reents, PC Nackt und Schorsch Kamerun von Raison Foto: Stephanie von Beauvais

Von Steffen Greiner

Automaten hören nicht auf, Autokraten hören nicht auf. Ordnung und Orden hören nicht auf, gegeben zu werden“, konstatiert Schorsch Kamerun in einer elektronisch unterfütterten Postpunk-Litanei auf dem Debütalbum des von ihm mit betriebenen Hamburg-Berliner Bandprojekts Raison. Wenn es also, wie im Text durchexerziert, gar kein Ende gibt, ist die menschliche Existenz zwar konstant bedroht, aber die Apokalypse tritt wohl doch nicht ein. Immerhin! Positiv gedreht bedeutet das Nichtaufhören auch Weitermachen: Das gilt speziell auch für Schorsch Kamerun, bekannt geworden als Sänger der Hamburger Diskurs-Punkband Die Goldenen Zitronen, inzwischen längst als Theatermacher und Autor tätig. Und so etwas wie der basalste Musikkönner, Texter und Sänger in einer Person.

Raison hat er zusammen mit Mense Reents und PC Nackt gestartet. Ihr Debütalbum „So viele Leute wie möglich“ ist soeben beim Hamburger Label Buback erschienen. PC Nackt betreibt in Berlin das Studio Chez Chérie und Mense Reents, ebenfalls Mitglied der Zitronen und eine Hälfte von Die Vögel, arbeitet in Hamburg als Produzent (etwa für Sophia Kennedy).

Remember: 1986 veröffentlichten Die Zitronen mit „Am Tag, als Thomas Anders starb“ einen Skandalhit in der alten BRD. Hätten sie damals nicht der Majorlabel-Versuchung skeptisch gegenübergestanden, wären sie wahrscheinlich heute so etwas wie Die Ärzte. „Weitermachen!“ ist als Losung auf dem Grabstein des US-deutschen Philosophen Herbert Marcuse eingemeißelt. Erschien ihm das wirklich so einfach? Marcuse starb 1979, zur Blütezeit von Punk und Zukunftslosigkeit in Westdeutschland. In England war Punk 1979 schon wieder Geschichte, er kam mit Zeitverzögerung aufs europäische Festland. „There is no future in England’s ­dreaming“, hieß es in einem Song der Sex Pistols, zu deren Musik Schorsch Kamerun damals in seinem norddeutschen Ostseenest in die Kfz-Mechaniker-Lehre ging.

Anders als die Pistols mit „No Future“ propagierten, trat die Zukunft dann doch ein, wenigstens wurde keine Wasserstoffbombe gezündet. Bloß Ver­bren­nungs­mo­tor­fe­ti­schis­t*in­nenhörten nicht auf, für ihre Autos zu werben. „Hier gibt es eine interessante Schnittmenge zu Fridays for Future, denen ich mich durchaus verwandt fühle. Unser Slogan als Punker war es Ende der 1970er, zu sagen: Fickt euch mit eurem Zukunftsbild. Das war damals gelungen irritierend, braucht aber das heutige Update“, sagt Schorsch Kamerun im Gespräch mit der taz.

Und schiebt hinterher: „Die Heutigen wollen richtigerweise radikal besseres Regieren, wir fanden Regieren per se scheiße. Beides ganz geil.“ Die Sex Pistols spielten 1977 gegen das silberne Thronjubiläum von Königin Elizabeth II. auf einem Boot, das die Themse in London entlangtuckerte, und wurden dafür verhaftet. „Working Royals“, war kürzlich, anlässlich des 70-jährigen Thronjubiläums der britischen Regentin zu erfahren, nennen sich heute Angehörige der Königsfamilie, die repräsentativ stundenlang lächeln. Was bedeutet es für Linke, wenn selbst die Windsors Arbeiterklasse sein wollen? Die Songtexte von Raison drehen sich um linke Themen wie Solidarität, Miteinander, das Fließen und Mischen, Schwärmen und Handhalten. „Musik kann alles! Strategie = Phantasie!“, heißt es in einem kleinen Manifest, das dem Album beigegeben ist.

Ein Ton-Steine-Scherben-Cover darf auch nicht fehlen, aber es darf keinesfalls klingen wie das Original von Ton Steine Scherben. Ihr Signalsong „Allein machen sie dich ein“ wird inzwischen gegen den Willen der verbliebenen Scherben-Mu­si­ke­r*in­nen auf Querfront-Demos gespielt. In der Version von Raison, die diese freche rechtsradikale Aneignung mitreflektiert, klingt der Agitpropsong fast gebrechlich, melancholisch, ein Wimmern. „Hätten wir versucht, ihn zu rocken, wär’s schnar­chig gewesen. Es darf nicht sentimental klingen, sondern braucht ein fortlaufendes Interesse, wie sich der Wunsch nach der gemeinsamen Intervention erzählen lässt. Jetzt stur Punk zu bollern und zu glauben, dass das ein funk­tio­nie­render Angriff ist, ist ja erbärmlich und minder pfiffig zugleich.“

Der Titel des Raison-Albums hätte auch „Ambivalent“ lauten können, sagt Schorsch Kamerun. „‚So viele Leute wie möglich‘, das klingt nach Werbeslogan und ist zugleich Wachstums­kritik. Aber Elon Musk will das auch, und Wolodomir Selenskj, der ist wegen des Kriegs dazu genötigt. Es geht immer um Aufrechterhalten von Aufmerksamkeit, den Kampf ums Framing. Und klar ist es auch ein Wunsch nach Teilhabe und Gemeinschaft, die zutiefst verwundbar ist.“ Die Sehnsucht ist bei Raison noch da, auch der Traum des Kollektiven. Und die Hoffnung, dass es „Momente ohne Rassismus“ gibt, wie ein Lied des Trios heißt, das auf einer Anekdote der Schwarzen Schauspielerin Yodit Tarikwa beruht.

Die Songtexte von Raison drehen sich um linke Themen wie Solidarität, Miteinander, das Fließen und Mischen

Die Sehnsucht, unbeachtet bleiben zu dürfen. Und die Sehnsucht, dass Eigenwilligkeit nicht weggestraft wird, wie in dem Märchen vom „Eigensinnigen Kind“, ein Brüder-Grimm-Cover mit simpler Synthmelodie und Drummachine – wann wäre postmoderner Krautrock als Mittel angemessener als in der Musik von Raison? Im Text lässt Gott das Kindchen sterben, weil es nicht tut, was seine Mutter will. Und das Kind, in seinem Eigensinn, streckt noch aus dem Grab sein Ärmchen hinaus, bis die Mutter es endgültig mit einer Rute unter die Erde prügelt. Von denen lebt ziemlich sicher niemand mehr heute, immerhin: ein Ende. Und ein surreales Lied, wie da Grimm’sche Sprache und Raison’sche Soundcluster ineinanderfinden.

Anders als die Musik der Zitronen will die Musik von Raison eine zum Nebenbeihören sein, das Trio nennt als Referenzen: The Notwist, Minimalismus und Brian Eno. Die Stücke wirken räumlich, immersiv, sind eher rauschende Texturen als Ohrwürmer. Das utopische „Driften“ mit Sophia ­Kennedys Gesang ist sprechend betitelt. Aber für die dissident-dissonante Klangtapete beißen die Texte dann doch ein wenig zu hart.

Gegenwartsbeobachtungen gibt es viele, bei Raison geht es, ohne dass es zu explizit wird, um den Zustand der Linken zwischen Klimakrise, Coronaleugnen und russischem Angriffskrieg. „Wir leben in einer unübersichtlichen Zeit, dadurch lässt es sich gut extra direkt sein. Ich weiß doch genau, was Fake ist und was nicht, das wissen im Grunde alle“, so Schorsch Kamerun. „Nur, man missbraucht das in unserer Kompensationsbubble: Darf ich fliegen, wenn ich dafür einen Baum pflanze? Kann ich ein Tier essen, wenn es grün ausgewiesen ist auf der Tierwohlampel? Nato fanden wir scheiße, aber man hat sich bequem in der Feindschaft eingeschnuckelt. Ich glaube, wir brauchen eine real wählbare, attraktive Superzurücknahme gegen unendliches Wachstumsdiktat mit anhängender Allroundmogelei.“

„Weitermachen!“, sagt ausgerechnet ein Grabstein. Was auch sonst.

Raison: „So viele Leute wie möglich“ (Buback/Indigo); live: 18. Juni, Hamburg, Pudel Club