Tausendfach versagt

Ein Gutachten belegt flächendeckenden Missbrauch im Bistum Münster. Vermutlich gibt es Tausende Opfer. Die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus fordert Konsequenzen

Gottesdienst im St.-Paulus-Dom in Münster: Es gibt kaum ein Dekanat im Bistum, wo es seit 1945 nicht zu sexuali­sierter Gewalt gekommen ist Foto: Fo­to: David Inderlied/dpa

Von Linda Gerner
und Tanja Tricarico

Es sind immer dieselben Worte, die fallen: Vertuschung, offenes Geheimnis, Versetzung. Und dass es kaum Strafverfolgung gibt. Zwei Jahre lang haben His­to­ri­ke­r*in­nen an dem Gutachten „Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945“ gearbeitet. Die Zahlen sind erschütternd: 196 Beschuldigte Kleriker, 610 Betroffene, mindestens 5.700 Einzeltaten sexuellen Missbrauchs. Und das sind nur die Daten einer sogenannten Hellfeldstudie. Das Dunkelfeld schätzt die Gruppe auf bis zu zehnmal größer. Betroffen von sexualisierter Gewalt im Bistum könnten also im Zeitraum von rund 75 Jahren 5.000 bis 6.000 Mädchen und Jungen sein.

Die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen der Universität Münster, Bernhard Frings, Thomas Großbölting, Klaus Große Kracht, Natalie Powroznik und David Rüschenschmidt, wurden 2019 vom Bistum beauftragt und arbeiteten unabhängig. Rund 1,3 Millionen Euro stellte das Bistum für das Gutachten zur Verfügung. Die Ergebnisse erhielt Bischof Felix Genn genau wie die Öffentlichkeit erst am 13. Juni.

Einen Tag zuvor sprachen die His­to­ri­ke­r*in­nen mit Betroffenen über ihre Erkenntnisse. Die Einbindung ihrer Perspektiven sei zentral in ihrer Arbeit gewesen, heißt es. Mit über 60 Frauen und Männern hätten sie über ihre Erlebnisse gesprochen und für die Studie zwölf Fälle, unterschieden nach Tattypen und Jahrzehnten, herausgearbeitet, die „die Dimension des Missbrauchs zum Tragen“ bringen.

Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, begrüßte das Gutachten. Auch diese Studie zeige, dass der Staat die Kirche mit der Aufarbeitung nicht alleine lassen dürfe und sich zudem staatliche Strukturen auch mit der eigenen Rolle in der Vergangenheit kritisch auseinandersetzen müssten, sagte sie der taz. Die von der Studie aufgedeckten Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen müssten nun auch Konsequenzen haben, forderte Claus.

Die Betroffenen im Bistum waren zu 75 Prozent männlich und zwischen 10 und 14 Jahre alt. Von den beschuldigten Klerikern sind die meisten tot. Wie schon in den Missbrauchsstudien aus den Bistümern München oder Köln berichten die His­to­ri­ke­r*in­nen von zahlreichen Serientätern, die versetzt wurden, trotz konkreter Vorwürfe weiterhin als Seelsorger tätig waren und weiteren Kindern und Jugendlichen Gewalt antun konnten. Auch seien die Straftaten einiger Pastoren bekannt gewesen, wie im Fall von Helmut Behrens, der als „Grabbelpastor“ beschrieben wurde, und in den 1980er-Jahren in Neuscharrel im Landkreis Cloppenburg ein Kind missbrauchte und dann versetzt wurde.

Klar zurückgewiesen werden konnte die Schilderung des 2008 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann, der von Einzelfällen sprach. Lettmann war von 1980 bis 2008 Bischof in Münster. In seine und in die Amtszeit seines Vorgängers Heinrich Tenhumberg fallen die Miss­brauchs­taten des Priesters Heinz Pottbäcker, der in 43 Jahren 14-mal versetzt wurde, zweimal strafrechtlich verurteilt, aber nie gänzlich aus der Kirchenarbeit ausschied. Die His­to­ri­ke­r*in­nen sprechen bei Pottbäcker von einem Intensivtäter, zahlreiche Menschen wussten von seiner pädosexuellen Neigung. Ihm machten es die Versetzungen möglich, zahlreichen Kindern sexuelle Gewalt anzutun.

Dem Priester Heinz Pottbäcker machten es die vielen Versetzungen möglich, zahlreichen Kindern sexuelle Gewalt anzutun

Die Forschungsgruppe bezeichnete die Zusammenarbeit mit dem Bistum als zufriedenstellend. Den Austausch kirchlicher Gremien mit Betroffenen bewerteten sie weniger positiv. Die Opfer hätten von retraumatisierenden Gesprächen berichtet. Ein Großteil der untersuchten Meldungen ging erst ab 2010 ein, doch von rund 100 Fällen wusste das Bistum Münster schon vor 2000. Von Einzelfällen zu sprechen sei absurd, da es kaum ein Dekanat im Bistum Münster gibt, wo es seit 1945 nicht zu sexualisierter Gewalt gekommen ist.

Auch am derzeitigen Bischof Felix Genn gibt es Kritik. Zu Beginn seiner Amtszeit habe Genn wenig Strenge gegenüber Missbrauchstätern gezeigt. Die His­to­ri­ke­r*in­nen gehen zudem auf Strukturen in der katholischen Kirche ein. „Bis in die 1970er Jahre gab es kein Bewusstsein für die Gewalt, die Betroffenen passiert ist“, sagte Thomas Großbölting. Auch hätten Sexualvorstellungen Scham und Schweigen hervorgebracht, was ein Klima für Verbrechen begünstigte.

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