Auszahlung an Opfer der Colonia Dignidad: 1.000 Hektar Gerechtigkeit
In der deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile wurden mindestens elf Chilenen Opfer sexueller Gewalt. Nun erhalten sie eine Entschädigung.
„Nach über zwanzig Jahren haben wir heute ein Stück Gerechtigkeit erfahren“, sagt Cristóbal Parada, der Mitte der 1990er Jahre in der Colonia Dignidad festgehalten und von Sektenchef Paul Schäfer vergewaltigt wurde. Damals war er 12 Jahre alt und besuchte ein sogenanntes „Intensiv-Internat“ in der 1961 in Südchile gegründeten deutschen Siedlung.
Auch deutsche Bewohner:innen waren dort jahrzehntelang sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit unterworfen. Während der chilenischen Diktatur von 1973 bis 1990 arbeitete die Sektenführung mit dem Geheimdienst Dina zusammen. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende ermordet, manche sind bis heute verschwunden.
Cristóbal Parada konnte 1996 eine Nachricht aus der deutschen Siedlung herausschleusen. Seine Mutter Jacqueline Pacheco erstattete Anzeige gegen Schäfer bei einer als unbestechlich geltenden Polizeieinheit in der Hauptstadt Santiago.
Sektenchef wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs verurteilt
Weitere chilenische Familien aus der Umgebung, deren Kinder sexualisierter Gewalt in der deutschen Siedlung ausgesetzt waren, schlossen sich ihnen an. Sie waren es, die die Colonia Dignidad in ihrer alten Form zu Fall brachten: Sie gaben den Anstoß für die ersten Durchsuchungen und ernsthaften polizeilichen Ermittlungen gegen die Sektensiedlung, die sich seit 1988 offiziell „Villa Baviera“, also „Bayerisches Dorf“, nennt.
In Chile wurde Sektenchef Schäfer wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs verurteilt, floh nach Argentinien, wurde dort 2005 verhaftet und starb 2010 im Gefängnis in Santiago. 2013 verurteilte der Oberste Gerichtshof Chiles die Führung der Siedlung rechtskräftig zu Entschädigungszahlungen von umgerechnet etwa 1,3 Millionen Euro an elf Chilenen und deren Familien.
Doch die Villa Baviera, die aus einer Holding verschachtelter Gesellschaften besteht und heute im Tourismus, der Landwirtschaft und in Immobilien aktiv ist, verzögerte die Zahlungen immer wieder. 2015 erstritten die Opferanwälte vor Gericht, dass vier Grundstücke des insgesamt etwa 17.000 Hektar großen Geländes der Villa Baviera zwangsversteigert werden müssen, um die Entschädigungszahlungen zu erwirken.
Nachdem mehrere Termine kurzfristig abgesagt wurden, fand die Zwangsversteigerung am Donnerstag schließlich statt. Das Forstwirtschaftsunternehmen Fosforera Copihue erhielt den Zuschlag für das 1.024 Hektar große Grundstück für ein Gebot von umgerechnet etwa 950.000 Euro, die innerhalb von fünf Tagen an das Gericht gezahlt werden müssen. Nach Abzug diverser Gebühren werden erste Entschädigungen an die Chilenen ausgezahlt, die in den 1990er Jahren von Sektenchef Schäfer vergewaltigt und misshandelt wurden.
Keine juristische Verfolgung der Täter in Deutschland
Um die restlichen Entschädigungszahlungen zu begleichen, sind drei weitere Grundstücke der Villa Baviera zur Versteigerung vorgesehen. Diese seien allerdings kleiner und weniger wertvoll, so Rechtsanwalt Winfried Hempel, der die Opferseite vertritt.
Vom deutschen Staat erhalten Opfer der Colonia Dignidad einmalige „Hilfszahlungen“ bis zu maximal 10.000 Euro: als symbolische Anerkennung erlittenen Leids, ohne rechtsverbindlichen Anspruch. Eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad hat in Deutschland nie stattgefunden. Die deutsche Justiz hat bisher in keinem einzigen Fall Anklage erhoben.
Prominentestes Beispiel ist der ehemalige Leiter des Krankenhauses der Siedlung, Hartmut Hopp. Er wurde 2013 in Chile rechtskräftig zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch verurteilt. Außerdem galt er als Verbindungsmann zum chilenischen Geheimdienst Dina.
2011 entzog sich Hopp der chilenischen Justiz, siedelte nach Deutschland über und lebt seitdem weitgehend unbehelligt in Krefeld. Die deutsche Justiz lehnte es 2018 ab, die ausstehende Haftstrafe in Deutschland zu vollstrecken, und stellte eigene strafrechtliche Ermittlungen 2019 ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste