Roman über globalisierte Arbeitswelt: Es sind alles nur Körper

Tash Aw verbindet Fiktion mit realen Orten und dem Thema Arbeitsmigration. „Wir, die Überlebenden“ ist True-Crime-Story und Sozialkritik zugleich.

Mehrere Personen auf einem Fischmarkt

Arbeitssuchende Migranten auf einem Fischmarkt in Malaysia Foto: Elizabeth Fitt/SOPA Images/LightRocket/getty images

Ah Hock hat einen Mord begangen, damit hält er von Anfang an nicht hinterm Berg. Gleich zu Beginn ruft der Erzähler das Bild verfallender Häuser wach, die von Bäumen überwuchert und doch gestützt werden: So verhalte sich auch sein Leben zum Scheitern – untrennbar miteinander verflochten.

Dann berichtet er von der Nacht nach der Tat, als er klitschnass geschwitzt am Flussufer entlangirrt und ans Gefängnis denkt, das ihm bevorsteht „bis an mein Lebensende“. Später wird klar, er hat nur ein paar Jahre bekommen, vermutlich, weil sein Opfer „nur“ illegaler Arbeitsmigrant war.

Für seinen vierten Roman „We, the Survivors“ (in der Übersetzung von Pociao und Roberto de Hollanda „Wir, die Überlebenden“) wählt der malaysische Autor Tash Aw eine interessante Konstruktion: Der Mörder erzählt zwischen Anfang Oktober und Ende Dezember einer engagierten Soziologiestudentin seine von Aufstiegshoffnung und Rückschlägen gezeichnete Lebensgeschichte, anfangs für ihre Abschlussarbeit, bis sie daraus eine Art sozialer True-Crime-Story entwickelt, gelegentlich ausgeschmückt mit Regieanweisungen wie in einem Theaterstück.

Zwischen die scheinbar transkribierten Memoiren geschaltet sind Dialoge zwischen Tan Su-Min und Ah Hock. Das soziale Gefälle zwischen dem chinesischstämmigen Malayen aus den industriellen Vororten von Kuala Lumpur und der in New York studierenden Su-Min, die in einer lesbischen Beziehung lebt, ist dabei noch viel größer als das zwischen dem Täter und seinem Opfer Mohammad Ashadul, einem Rohingya aus Myanmar. Ob auch der 1971 geborene Tash Aw auf ein solches Zeugnis zurückgegriffen und sich in der privilegierten jungen Frau porträtiert hat?

Tash Aw: „Wir, die Überlebenden“. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda. Luchterhand, München 2022, 414 Seiten, 32 Euro

Ah Hock kommt aus einer armen Arbeiterfamilie. Sein Vater verlässt seine Mutter und ihn, als er noch ein Kind ist, dem niemand offen erklärt, warum die Erwachsenen welche Entscheidung treffen. Alles, was er mitbekommt, sind plötzliche Veränderungen, etwa, als seine Mutter mit ihm zu „Onkel Kiat“, einem entfernten Cousin des Vaters, zieht, der deutlich wohlhabender scheint als der Rest des Dorfes. Abrupt endet bald auch diese Verbindung. Doch während dieser Zeit begegnet Ah Hock erstmals Keong, einem Teenager, der ebenfalls bei einer alleinerziehenden Mutter aufwächst, allerdings gefühlt eine Spur prekärer.

Ein verwahrlostes Haus

Ah Hocks Mutter kauft von ihren Ersparnissen ein verwahrlostes Haus mit einem Stück Land in Meeresnähe. Mutter und Sohn roden in harter Arbeit, an die er sich noch Jahre später körperlich erinnert, den Urwaldboden, schaffen es, sich drei Jahre lang selbst zu versorgen und das Angebaute sogar noch auf dem Markt zu verkaufen.

Doch Springfluten machen dem Geschäfts- und Lebensmodell ein Ende, „globale Erderwärmung, sagten die Leute“. Dennoch erinnert Ah Hock diese Zeit als glückliche, vielleicht, weil er sich mit der Fantasie, ein Held zu sein, während er auf das Unterholz einhackt, erfolgreich zur Arbeit motivierte; vielleicht, weil die Verheißung von Wohlstand greifbar schien.

Von Schule ist bald keine Rede mehr. Ah Hock jobbt als Glasflaschenauslieferer, Kellner und Nachtwächter in der Hauptstadt, trifft dort Keong wieder, der inzwischen dealt, kehrt zurück in die Hafenstadt Klang, wo er auf einer Fischfarm zum Vorarbeiter aufsteigt. Er verliebt sich in seine zukünftige Frau Jenny – sie kommt aus etwas besseren Verhältnissen, und der Druck, ihr etwas zu bieten, prägt die Ehe. Ein Häuschen, vielleicht Kinder, bescheidene Aufstiegsträume treiben die beiden an und Jenny in eine Kosmetikfirma, die ihre Vertreterinnen per Pyramidenschema ausbeutet.

Cholera auf der Fischfarm

Ah Hock wiederum gerät ausgerechnet in Bedrängnis, als er seinen Chef vertritt und die indonesischen Arbeiter auf der Fischfarm an Cholera erkranken. Wieder gerät er an Keong, der inzwischen zum Zwischenhändler und Fixer für Ar­beits­mi­gran­t:in­nen aus Bangladesch und Myanmar geworden ist und behauptet, ihm helfen zu können.

Tash Aw, der selbst als Sohn malaysischer Eltern in Taiwan zur Welt kam, in Kuala Lumpur aufwuchs und in England Jura studierte, bevor er Schriftsteller wurde, nimmt sich Zeit, um Ah Hocks soziale Hintergründe aus dessen Sicht zu erzählen, die Linien nachzuziehen, die ihn und Keong zu trennen scheinen, auch wenn die beiden von außen betrachtet höchstens die Moral unterscheidet.

Er hat sich in ihrer Vorstadtwelt genau umgesehen, nimmt Details wahr wie die im Straßenstaub ergrauten Palmen, Betonböden und in dänischen Butterkeksdosen verwahrten Ersparnisse, fast mehr aber noch Gefühlsnuancen von Scham und Neid, die seinen Protagonisten quälen, ausbremsen, in die falsche Richtung drängen.

Grausames Geschäft

Eine melancholische, vielleicht schon resignierte Note liegt über dieser Erzählung aus der globalisierten Arbeitswelt, und doch wird erst gegen Ende, wenn Keong und Ah Hock zunehmend verzweifelt nach noch arbeitsfähigen Mi­gran­t:in­nen suchen, das verstörende Ausmaß des grausamen Geschäfts mit den in jeder Hinsicht noch weiter unten stehenden Geflüchteten offenbar: „Männer oder Frauen, es sind alles nur Körper.“

Aber ist es nicht wenigstens ein Trost, dass die Geschichten dieser Körper literarisch erzählt werden können? Dass ein Mörder wider Willen, der selbst Teil dieser Hoffnungslosigkeit ist, sein Leben reflektieren darf?

Tash Aw fällt darüber kein abschließendes Urteil, und geschrieben hat er sein Buch ja de facto. Doch mit der Figur der engagierten Autorin lässt er keinen Zweifel daran, dass Literatur und Reflexion knallharte Privilegien sind: Während Su-Min ihr von der korrupten Polizei abgeschlepptes Auto fast lieber der Stadt überlassen würde, als das geforderte Schmiergeld zu bezahlen, ist für Ah Hock der Gedanke, gegen Korruption aufzubegehren, geradezu absurd riskant.

Und als sie am Ende ihren Storyteller zur Buchpremiere in einen wohlhabenden Vorort von KL einlädt, als Su-Min von „seiner Geschichte“ spricht und Ah Hock beharrlich von „ihrem Buch“, ist klar, dass selbst diese einander Wohlgesinnten über dasselbe Projekt von zwei Standpunkten aus sprechen, die unvereinbar sind.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.