Schwarzer Gurt mit 88 Jahren: „Hau rein, Lilli“

Ottilie Kopetz hatte immer ein bewegtes Leben. Als sie sich nicht mehr gut die Socken anziehen konnte, lernte sie Taekwondo. Denn was ist schon Alter?

Drei Frauen in weißen Taekwondo-Anzügen trainieren auf einer Matte im Studio

88 Jahre war Lilli Kopetz alt, als sie die Schwarzgurtprüfung im Taekwondo bestand Foto: Jean-Francois Moulin

Dicht gedrängt sitzen Menschen in der Kampfsportschule Miethig südlich von München um den Mattenboden. Ottilie Kopetz, die hier nur Lilli genannt wird, steht in der Mitte. Sie trägt einen Taekwondo-Anzug, den Dobok, um die Taille den roten Gürtel. Bald soll er schwarz sein.

Vor dem südkoreanischen Meister Ko Eu-Min, der eigens in die Taekwondo-Schule gekommen ist, um ihre Schwarzgurtprüfung abzunehmen, hat sie zuvor Fauststöße, Abwehrtechniken, Kicks und Tritte gezeigt. Jetzt steht die letzte Aufgabe an: der Bruchtest. Drei Holzplatten muss sie durchschlagen. Drei Männer, alle „Schwarzgurte“, stehen um sie herum. Jeder hält ihr ein Brett entgegen.

Lilli prüft den richtigen Abstand, wechselt noch mal den Fuß, deutet einige Schläge in der Luft an. Dann geht es schnell. Mit dem abgewinkelten rechten Arm holt sie aus und schwingt ihren Ellbogen entschlossen mitten auf die Platte. Mit einem hellen Krachen bricht das Holz. Die Zuschauer sind mucksmäuschenstill.

Lilli fokussiert ihr nächstes Ziel. Dann fährt ihr linker Unterarm wie eine Klinge durch die Luft; mit einem Handkantenschlag spaltet sie das zweite Brett. Fehlt noch das dritte. Diesmal führt Lilli einen Fauststoß aus – wieder kracht es. Jetzt brandet Beifall auf, „Bravo!“, alle freuen sich mit Lilli, die soeben, im Alter von 88 Jahren, ihre Schwarzgurtprüfung bestanden hat. Ein Einzelfall sei sie in Deutschland, sagt Meister Ko, der Prüfer, als er ihr gratuliert. Im Dezember 2019 war das.

Gemeinschaft im Sport

Zwei Jahre später sitzt Lilli, die sich nicht vorstellen kann, anders genannt zu werden, in der „Blumenhöhle“ in ihrer Wohnung. Die Dachschräge über der Sitzgruppe ist mit Rosenranken tapeziert, deshalb heißt die Ecke so. Aus dem Fenster fällt der Blick auf die bayerische Voralpenlandschaft. Sie hat sich eine Jacke über die Schultern gelegt. Das Netz aus Falten im Gesicht verheimlicht ihr Alter nicht. Denn was ist Alter?

Angefangen hat Lilli mit Taekwondo, als sie vor ein paar Jahren ihre heute 13 Jahre alte Enkeltochter Ella zum Kampfsport im Dojang, dem Trainingsraum, begleitete und ihr zuschaute, wie sie sprang, wie sie kickte. „Da hab ich angebissen.“

Einmal, so berichtet sie, habe sie zum Besitzer der Taekwondo-Schule gesagt: „Das sieht so schön aus, da möcht ich am liebsten mitmachen!“ „Dann mach doch mit“, hat der geantwortet. „Damals hab ich mir gedacht: Der spinnt“, erzählt sie. So ungelenkig, wie sie mit 84 Jahren gewesen sei. „Ich konnte mich nur schwer bücken; und Schnürsenkel binden oder Socken anziehen, ach Gott, das war ein Drama.“ Trotzdem, es lässt sie nicht los. Sie steigt ein. Jeden Dienstagmorgen, 9 Uhr, der Anfängerkurs, „Taekwondo light“ mit viel Aufwärmen und Dehnübungen.

Und es zeigt Wirkung: „Ich habe bald gemerkt, wie ich wieder beweglicher wurde, ich konnte mich wieder alleine anziehen, ich kam wieder ohne fremde Hilfe aus der Badewanne; das Treppensteigen fiel mir leichter.“ Und noch etwas war anders. „Im Sport erlebe ich Gemeinschaft, vorher habe ich außer der Familie nur wenige Menschen gesehen.“

Vor allem in der Coronazeit ging sie in den Dojang, sobald es erlaubt war und sie ihre Impfungen hatte.

Lillis Handkantenschläge sind hart

Ein Abend in der Taekwondo-Schule, Musik von AC/DC fegt durch den Raum. Es ist freies Training, jeder übt, was er will. Ein gutes Dutzend Leute sind da, Kinder, Jugendliche, Erwachsene – in allen Gurtfarben. Lilli trainiert mit ihrer Tochter Judith, auch sie ist Schwarzgurtträgerin. Sie hält ihrer Mutter ein dickes Polster entgegen, das in der Mitte einen roten Punkt hat. Lilli platziert ins Ziel ein paar Ellbogenstöße und Kniestöße. „Hau rein, Lilli!“, sagt ein Mann neben ihr.

Besonders gut ist Lilli im Hanbon Kyo­rugi, einer Selbstverteidigungsübung, bei der die Rollen von Angreifer und Verteidiger festgelegt sind. Auch wenn hier alles nur ritualisiert ist, einer Choreografie folgt – Lillis Handkantenschläge sind hart.

Mit ihrer Beinarbeit ist sie nicht zufrieden, deshalb geht sie auch zum Thai-Boxen

Eine Herausforderung, sagt sie, seien die Poomsae: vorgeschriebene Bewegungsabläufe, die Kampfsituationen gegen einen imaginären Gegner darstellen. Aktuell übt sie die achte Form, die Taegeuk Pal Jang, in der sich zeitlupenhafte und dynamische Bewegungen abwechseln.

Mit ihrer Beinarbeit ist sie allerdings nicht zufrieden. „Ich kriege die Knie nie so richtig hoch.“ Deswegen geht sie neuerdings auch zum Thai-Boxen. „Dieses Rumtänzeln und die Füße schnell bewegen – das tut mir gut.“

Dass es Kampfsport ist, was sie macht, findet Lilli nicht befremdlich. „Ach wissen Sie, das Kämpfen, das hab ich schon früh lernen müssen!“ sagt sie.

Die Eltern in Blautönen

Ursprünglich stammt sie aus dem Sudetenland. Die Kindheit hat sie in Schlesisch Wolfsdorf, heute Vlkovice in Tschechien, verbracht. 1946 wurde sie mit ihrer Familie ausgewiesen, da war sie 14. Alles war verloren, der elterliche Bauernhof, das Lebensgefühl, die Heimat. „Das war sehr hart.“ Aber sie hegt keinen Groll gegen die Tschechen. „Schließlich hatte Deutschland einen Weltkrieg begonnen, und Millio­nen Menschen mussten dafür einen hohen Preis bezahlen.“

Bevor sie gehen mussten, hätten Nachbarn noch versucht, zu helfen. Eine tschechische Familie schützte die ältere Schwester vor Vergewaltigung durch russische Soldaten. Ein ­anderer Nachbar wiederum übernahm als Gutsverwalter eine Zeit lang die Landwirtschaft, damit die Familie bleiben konnte. Es half nichts. „Eines Nachts brannte der Dachstuhl, es war ­Brandstiftung und eine Warnung auch an solche Tschechen, die uns ­unterstützten.“

Lillis Familie wird vertrieben. „Sechzig Kilogramm durften wir mitnehmen“, sagt sie. Von ihrem Ohrensessel aus zeigt sie auf eine altmodische Nähmaschine mit schwerem metallenen Pedal. „Die war auch mit dabei.“ Außerdem eine Holztruhe mit Werkzeug und eine eiserne Milchkanne. Sie sei jung gewesen, konnte nach vorne schauen, das Verlorene hinter sich lassen, „bei den Eltern blieb die Traurigkeit“. An der Wohnzimmerwand hängt ein Bild in Blautönen, Lilli hat es gemalt. Es zeigt ihre Eltern als liegendes Paar unter einem Baum, dahinter der einstige Bauernhof mit seiner schützenden Vierkantform. Ein wenig wie bei Marc Chagall.

Der aktuelle Krieg in der Ukraine wühlt sie auf, er erinnert sie an ihre Kindheitserlebnisse. Ihr Bruder, 18 war er und nur wenige Jahre älter als sie, geriet 1945 als Soldat in den Kessel von Breslau. „Er ist nicht mehr heimgekommen.“ Lilli hofft, dass aus den jetzigen Flüchtlingen keine Vertriebenen werden, sondern sie eines Tages wieder eine Heimat haben.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Osten bleibt nahe

Gerne wäre sie, als sie mit ihrer Familie bei Kirchseeon östlich von München landet, weiter zur Schule gegangen. Das ging nicht. Die Eltern beschließen, sie in eine Lehre zu geben, im Haushalt eines landwirtschaftlichen Betriebs. „Dort hab ich schwere Säcke heben müssen. Ich habe daher in meinem Oberkörper immer viel Kraft gehabt, das hilft mir heute beim Taekwondo.“

Der Osten sei ihr innerlich immer nah geblieben. Geheiratet hat sie einen „von drüben“, einen Sprengmeister, der im Bergbauunternehmen Wismut in Ostdeutschland gearbeitet hatte. „Er war ein eingefleischter Kommunist, aber als er merkte, auf was die DDR zusteuert, hat er sein Parteibuch zurückgegeben und ist in den Westen.“ Dort habe man ihn wenig willkommen geheißen, erinnert sich Lilli. „Wenn einer zuvor bei den Kommunisten gewesen war, hat er im Westen keine Laufbahn mehr gehabt.“

Zunächst arbeitete ihr Mann, der neben Ingenieurswesen auch noch Politikwissenschaften studiert hatte, als Milchausfahrer, dann wurde er Taxifahrer – mit eigener Droschke. „Auf Rosen sind wir nie gebettet gewesen“, sagt Lilli. Trotzdem spielen Rosen und ein Schloss eine Rolle in ihrem Leben.

15 Jahre wohnte sie in einem, und das kam so: Eine seiner Taxifahrten führt Lillis Ehemann zu einer Ikonenausstellung. Er nimmt von dort einen Prospekt mit, in dem ein Ikonenmalkurs auf dem niederbayerischen Schloss Hofberg beworben wird. Lilli liebt die byzantinisch-orthodoxen Heiligenbilder mit dem Goldhintergrund. Sie meldet sich an. Der auf einem Hügel gelegene Platz nimmt sie ein, die historischen Gebäude, die kleinen Innenhöfe. Sie mag die Atmosphäre, die der Leiter des Kulturzentrums, der zugleich der Bischof der christlich-orthodoxen Gemeinde in Deutschland ist, geschaffen hat. Immer wieder bucht sie von nun an Malkurse.

Die verwahrlosten Rosenrabatten auf dem Schlossgelände sind ihr allerdings ein Dorn im Auge. Einmal bietet sie dem Bischof an, ein großes Beet zu jäten. Mit einer Freundin rückt sie an. „Wir mussten die Rosensträucher ausgraben, um die Brennnesseln auszureißen, und danach die Stöcke wieder einpflanzen.“ Eine schwere, kratzige Arbeit. Das Ergebnis allerdings ist prachtvoll.

Der Bischof macht Lilli einen Vorschlag: Sie solle mit ihrem Mann aufs Schloss ziehen und für das orthodoxe Kulturzentrum arbeiten. Sie könnte die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Malkurse bekochen und den Garten in Ordnung halten. Das Ehepaar ergreift die Chance. Lilli zeigt Fotos aus der Zeit. Lilli in der Schlossküche, Lilli in den Rosenbeeten, Lilli neben blau schillernden Pfauen, die durch den Klostergarten schreiten.

Bis im Jahr 2011 Lillis Ehemann stirbt. Wenig später entscheidet sie, in die Nähe ihres Sohnes und seiner Familie in München zu ziehen. „Ich dachte, jetzt werde ich Rentnerin, gärtnere und hüte die Enkelkinder“, erzählt sie. „Es war falsch gedacht.“

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