Coronalockdown in Shanghai: Die Dystopie lebt

Seit über drei Wochen ist Shanghai abgeriegelt. Während die Wut wächst, kommt Chinas Zensur nicht mehr hinterher. Ein Ende? Nicht absehbar.

Männer in blauen Schutzanzügen hantieren auf einer Straße mit Kanistern

Gesundheitsarbeiter bereiten die Desinfektion eines Wohnblocks in Shanghai vor Foto: reuters

PEKING taz | Das kommt in China nur alle paar Jahre vor: Dem technologisch fortschrittlichsten Zensurapparat der Welt ist die Informationskontrolle am Freitag vollständig entglitten. Millionenfach teilten die Bewohner Shanghais ein Video, versteckten es hinter QR-Codes und in immer wieder neu arrangierten Formaten. Die Zensoren kamen in diesem Katz-und-Maus-Spiel mit dem Löschen nicht mehr hinterher. Laut einem geleakten Memo aus dem Staatsapparat sollen bis kurz nach Mitternacht bereits 400 Millionen Menschen das Video mit dem Namen „Klang des April“ geschaut haben.

Es zeigt in nüchternen Schwarz-Weiß-Luftaufnahmen eine zum Stillstand gezwungene Geisterstadt: Die hochmodernen Geschäftsviertel der Wirtschaftsmetropole Shanghai muten nur mehr wie Kulissen eines dystopischen Thrillers an.

Unterlegt sind die Bilder mit Audiomitschnitten einer leidenden Bevölkerung – hungernd, eingesperrt und verzweifelt. „Ich hatte zunächst Angst vor dem Virus. Dann realisierte ich jedoch, dass Viren dich nicht töten – aber der Hunger sehr wohl“, sagt ein Bewohner Shanghais in dem Video.

Seit über drei Wochen ist die größte Stadt des Landes abgeriegelt. Doch ganz gleich, wie strikt die Ausgangssperren auch sind, die Infektionszahlen gehen nicht herunter: Auch am Sonntag vermeldeten die Gesundheitsbehörden abermals über 21.000 Fälle in Shanghai.

Kaum Hoffnung auf ein Ende des Lockdowns

Viele Einwohner verweigern die täglichen Massentests, da sie Angst haben, sich dabei anzustecken. Sie öffnen schlicht nicht mehr die Tür, wenn das Nachbarschaftskomitee – manchmal mitten in der Nacht – zum Appell ruft.

Doch nicht selten brechen die Behörden mit Gewalt in die Wohnungen ein. Vor wenigen Tagen führten sie eine über 90-jährige Frau gegen ihren Willen in eines der Quarantänelager ab. Die Seniorin versuchte mit letzter Kraft, die in weißen Seuchenschutzanzüge gehüllten Männer mit einem hölzernen Gehstock abzuwehren. Doch vergebens: Heimisolation ist in den epidemiologischen Regeln Pekings nicht vorgesehen.

Hegten die Leute noch vor wenigen Tagen Hoffnung auf ein baldiges Ende des Lockdowns, ist dieses längst in weite Ferne gerückt. Im Gegenteil: Der Lockdown Shanghais ist jetzt in seine nächste Phase eingetreten: Die bereits abgesperrten Wohnsiedlungen werden seit dem Wochenende zusätzlich mit Gitterzäunen voneinander getrennt. „Ying geli“, nennen die Behörden das auf Chinesisch, „harte Isolation“.

In mindestens einem Fall hat dies bereits zu einer Tragödie geführt: Bei einem Wohnungsbrand konnten die Löschfahrzeuge zunächst ihren Einsatz nicht beginnen, da sie sich zunächst ihren Weg durch die Absperrungen bahnen mussten. Natürlich verstoßen die Gitter gegen bestehende Gesetze, doch in China gelten diese im Ernstfall nur auf dem Papier.

Selbst Chinas führender Epidemiologe, Zhong NanSchan, 2020 von Präsident Xi Jinping höchstpersönlich mit dem „Orden der Republik“ ausgezeichnet, schrieb zuletzt in einem wissenschaftlichen Artikel, dass man „Null Covid“ auf lange Sicht nicht aufrechterhalten könne. Doch die Debatte darüber will die Parteiführung nicht einmal zulassen: Sie ließen die Publikation einfach zensieren.

Stattdessen droht sich das Schicksal Shanghais möglicherweise auch in der Hauptstadt Peking zu wiederholen: 22 symptomatische Fälle haben die Behörden dort am Sonntag registriert, der höchste Wert in diesem Jahr. In Shenzhen, der 12-Millionen-Metropole im Süden des Landes, reichten 60 Infektionen für diesen radikalen Schritt aus. Dementsprechend sah man in der Hauptstadt am Sonntag auffallend viele Leute mit riesigen Einkaufstüten durch die Straßen huschen – offenbar, um die Vorratskammer aufzufüllen.

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