Antisemitismus, Rassismus und „Islamophobie“

Mitte Juni beginnt die documenta 15 in Kassel. Mit ihr drohen unerquickliche Diskussionen über antiisraelische Positionen, die unter dem Vorwand der Kunstfreiheit agieren. Von daher ist es ratsam, Schlüsselbegriffe vorab zu klären

Hier soll ein Debattenlabor der documenta entstehen: das „ruruHaus“ in Kassel Foto: Andreas Fischer/epd/imago

Von Stephan Grigat

Als Anfang dieses Jahres Antisemitismusvorwürfe gegen die documentaund das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa durch das „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“ laut wurden, reagierte die deutsche Kultur-Staatssekretärin Claudia Roth von den Grünen mit einer ebenso routiniert wie kalkuliert anmutenden Ankündigung: Man wolle „in eine Debatte eintreten, um das Grundrecht der Kunstfreiheit angesichts des Kampfes gegen Rassismus und Antisemitismus und Islamophobie zu diskutieren“.

Mittlerweile wird Rassismus in zahlreichen sich als links verstehenden Milieus reflexartig ins Spiel gebracht, sobald es um Antisemitismus geht. Die Ignoranz gegenüber den Unterschieden zwischen rassistischen und antisemitischen Ideologien behindert zusehends antirassistische und antisemitismuskritische Praktiken. Und der Unwille, den „Islamophobie“-Vorwurf als jenen Kampfbegriff der Verteidiger einer islamischen Menschenzurichtung zu erkennen, mit dem noch die brutalsten Formen der Unterdrückung gegen Kritik immunisiert werden soll, charakterisiert seit Langem die Debatten über Antisemitismus, Rassismus und Islamkritik.

Eine Kritik des Antisemitismus muss zunächst zeigen, inwiefern er nicht einfach ein gegen Juden gerichteter Rassismus ist. So sehr Rassismus und Antisemitismus miteinander korrespondieren, existiert doch ein fundamentaler Unterschied: Es ist allein der Antisemitismus, der als allumfassende Welterklärung auftritt und eine existenzielle Feinderklärung vornimmt. Etwas schematisch lässt sich der zentrale Unterschied wie folgt auf den Punkt bringen: Die Abgrenzung gegen die „Minderwertigen“ findet im Rassismus seinen Ausdruck. Gegen die „Überwertigen“ richtet sich der Antisemitismus. Den Opfern des Rassismus wird nicht ihre Überlegenheit, sondern ihre Unterlegenheit vorgeworfen. Rassismus biologisiert historisch und aktuell existierende Produktivitätsgefälle. Er wendet sich gegen die Ohnmacht der Rassifizierten und erklärt gesellschaftlich und historisch bedingte Unterschiede aus der vermeintlichen „Natur“ der Rassifizierten.

Antisemiten imaginieren ihre prospektiven Opfer im klaren Gegensatz zu den Opfern des Rassismus gerade nicht als ohnmächtig, sondern als allmächtig. In den Augen von Antisemiten beherrschen Juden die ganze Welt. Dazu wären die Opfer des Rassismus im Bewusstsein der Rassisten gar nicht in der Lage – kein Mensch fantasiert von einer „afrikanischen Weltverschwörung“.

Bei Rassismus und Antisemitismus handelt es sich um Bedrohungsszenarien, die sich Rassisten und Antisemiten halluzinieren. Die Art der Bedrohung, die halluziniert wird, ist aber doch entscheidend anders: Antisemiten imaginieren sich ihre Vernichtung durch den überlegenen Geist, die „Herren des Geldes“ oder die als illegitim begriffene jüdische Staatlichkeit. Dieser imaginierten Bedrohung gedenken sie in letzter Konsequenz durch Vernichtung zuvorzukommen.

Natürlich finden sich im rassistischen Bewusstsein auch Fantasien von einer Allmächtigkeit der Rassifizierten. Zu denken wäre hier etwa an die Vorstellungen von angeblicher sexueller Omnipotenz, die allerdings an der Einschätzung der Opfer des Rassismus als Unterwertige nichts ändert und die Reduzierung der Rassifizierten auf triebhafte Tiere nur mehr um eine weitere Facette ergänzt. Außerdem lassen sich auch hier wichtige Unterschiede zwischen antisemitischen und rassistischen Zuschreibungen aufzeigen. „Schwarze“ imaginiert sich das rassistische Bewusstsein in der Regel als muskelbepackte Omnipotente. Häufig kommt dazu noch das Bild vom schwarzen Vergewaltiger. Der Jude hingegen fungiert in der klassischen antisemitischen Projektion nicht als Vergewaltiger, sondern als Verführer, als hinterhältiger Verderber, der seine Opfer nicht, wie der rassifizierte Schwarze, durch physische Gewalt oder äußerliche Reize ins Elend stürzt, sondern durch eine Art emotionaler und psychischer Heimtücke oder durch Geld. Das entsprechende Bild ist nicht das vom naturverbundenen, wohlgeformten jungen Kerl, sondern jenes vom alten, gekrümmten geilen Bock.

Die Besonderheit von Antisemitismus resultiert in erster Linie aus dem unterstellten spezifischen Umgang mit Geld und Geist, woraus für Antisemiten die besondere Gefährlichkeit der Juden folgt. Aufgrund ihrer besonderen Bedrohlichkeit, die nicht aus ihrer großen Zahl, sondern ihrer unterstellten Qualität resultiert, sind sie es, die als „Gegenrasse, als negatives Prinzip als solches“ ins Visier genommen werden, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ festgehalten haben. Aus dieser halluzinierten Bedrohung resultiert eine spezifische Verfolgungspraxis, die – in der „Logik“ des Antisemitismus nur konsequent – aufs Ganze geht.

Am deutlichsten wurde das im Nationalsozialismus, in dem sowohl der Antisemitismus als auch der Rassismus zu millionenfachem Massenmord geführt haben. Während es hinsichtlich der jüdischen „Gegenrasse“ jedoch um totale Vernichtung ging, war im Fall des antislawischen Rassismus im Nationalsozialismus nach dem millionenfachen Mord, der insbesondere im Zuge des Vernichtungskrieges im Osten begangen wurde, die partielle Beherrschung der „rassisch Minderwertigen“ ins Auge gefasst – was allein dadurch möglich wurde, dass in den Augen der Rassisten „die Slawen“ oder „die Afrikaner“ zu jener unterstellten spezifisch jüdischen Handhabung von Geld und Geist gar nicht fähig sind. Bei Teilen jener europäischen Parteien rechts des klassischen Konservativismus, die sich nicht mehr offen in die Tradition des Nationalsozialismus stellen, sehen wir heute eine partielle Entsagung hinsichtlich expliziter antisemitischer Hetze bei gleichzeitiger Konzentration auf die „raumfremde Kultur“ des Islam.

Rassistische Ressentiments

Allerdings käme kein noch so verschwörungstheoretisch versierter rechter Agitator auf die Idee, „der Moslem“ wäre in der Lage, die internationale Finanzwelt zu kontrollieren und die europäischen Nationen in die Krise zu stürzen. Die gegenüber in Europa lebenden Muslimen und gegenüber Flüchtlingen aus islamisch dominierten Ländern ausagierten fremdenfeindlichen Ressentiments erinnern in aller Regel an Aspekte von klassisch rassistischen Vorstellungen von zwar gewalttätigen, aber letztlich unterlegenen und minderwertigen Einwanderern, nicht an antisemitische Vorstellungen vom überlegenen, durch die geschickte Handhabung von Geld und Geist die Welt ins Unglück stürzenden und daher bis zur letzten Konsequenz zu bekämpfenden Juden.

Antisemitismus und Rassismus sind ver­schieden. Wer dies ignoriert, behindert ihre Bekämpfung

Begriffen wie „Islamophobie“ oder „Antiislamismus“ muss vor diesem Hintergrund mit äußerster Skepsis begegnet werden. Beim „Antiislamismus“ fragt man sich schon aufgrund der Wortkomposition, was daran kritikwürdig sein sollte, sich gegen Islamismus zu positionieren. Der Begriff der „Islamophobie“ zielt in erster Linie auf die Delegitimierung von Kritik. Eines der Hauptprobleme beim „Islamophobie“-Begriff ist die ihm inhärente Parallelisierung einer ressentimenthaft begründeten Ablehnung des Islam oder eines Hasses auf in Europa lebende Muslime mit dem als allumfassende Welterklärung auftretenden und in der Shoah kulminierenden Antisemitismus.

Falsche Parallelisierungen

Solche Parallelisierungen basieren auf der falschen Annahme, Muslime würden heute in den wahnhaft-projektiven Verarbeitungen von gesellschaftlicher Wirklichkeit eben jene Funktion erfüllen, die Juden im klassischen Antisemitismus haben. Doch keine politisch relevante Gruppierung imaginiert „Moslems“ oder gar ein „islamisches Prinzip“ als Verkörperung der Zersetzung und als Personifikation subjektloser Herrschaft, in deren Vernichtung der Krisencharakter der Moderne zu exorzieren wäre. Das aber ist ein Kernelement des antisemitischen Wahns. Wenn Antisemiten im Westen, das iranische Regime oder sunnitische Islamisten von einem jüdischen Drang nach Weltherrschaft fantasieren, ist das eine wahnhafte Projektion der eigenen Wünsche auf den ewigen Todfeind. Der Hinweis auf einen globalen Herrschaftsanspruch im Islam hingegen ist keine Verschwörungstheorie (auch wenn er von Rechtspopulisten meist nur in der Form von paranoidem Geraune formuliert wird), sondern dieser Anspruch wird von maßgeblichen Strömungen des Islam offen artikuliert.

Das Verständnis für die Unterschiede rassistischer und antisemitischer Ideologien ist eine Voraussetzung dafür, beide besser bekämpfen zu können. Das Gerede von einer „Islamophobie“ zielt hingegen auf die Abwehr einer dringend gebotenen Kritik nicht nur am Islamismus, sondern beispielsweise auch an antisemitischen Ausprägungen eines orthodox-konservativen Mehrheitsislams. Derartige Kritik unter Rassismusverdacht zu stellen, ist ein durchschaubares Manöver, das sehr viel offensiver in seiner intellektuellen Unredlichkeit und seinem antiaufklärerischen Impetus kenntlich gemacht werden sollte.

Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und Co-Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen. Er ist unter anderem Herausgeber von „AfD & FPÖ: Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder“ und „Iran – Israel – Deutschland: Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm“.