Wer eine Chance kriegt, hängt vom Wohnort ab

Die Ampel will gut integrierten Geduldeten eine Bleibeperspektive bieten. Schon bevor das Gesetz in Kraft ist, handeln einige Bundesländer bereits entsprechend – andere nicht

Wer eine Ausbildung macht, darf erst mal bleiben: Geflüchtete aus Afghanistan beim Unterricht in Heidenau, Sachsen Foto: Fo­to:­ O­li­ver Killig/picture alliance

Von Dinah Riese
und Rieke Wiemann

Florentin K. hat Pech: Er wohnt am falschen Ort, in Halle in Sachsen-Anhalt. Hier droht ihm die Abschiebung. Würde er nur etwa 70 Kilometer weiter westlich leben, im thüringischen Örtchen Voigtstedt etwa, sähe es anders aus. Denn Thüringen handelt nach dem von der Ampelkoalition geplanten „Chancen-Aufenthaltsrecht“, das Menschen wie ihm einen Aufenthaltstitel ermöglichen soll. Es ist aber noch längst nicht in Kraft. Und Sachsen-Anhalt will nicht auf die angestrebte Regelung vorgreifen. Das hat Folgen für Menschen wie Florentin K.

Herr K. stammt aus Benin. Er ist 58 Jahre alt, erfahrener Fotojournalist und lebt seit sieben Jahren in Deutschland, sein voller Name ist der taz bekannt. Er arbeitet in einem Logistiklager. Als er Anfang Februar zur Ausländerbehörde ging, um eine sogenannte Beschäftigungsduldung zu beantragen, wurde er festgesetzt und in Abschiebehaft genommen: Für die Beschäftigungsduldung müssen Menschen in den vergangenen 18 Monaten mindestens 35 Stunden pro Woche gearbeitet haben. Bei K. standen zunächst nur 32,5 Stunden im Arbeitsvertrag. Inzwischen arbeitet er Vollzeit, unbefristet.

„Als die Polizei mich mit Handschellen ins Gefängnis gebracht hat, das war schlimm. Ich hatte das Gefühl, wie ein Verbrecher behandelt zu werden“, sagt K. Un­ter­stü­tze­r*in­nen liefen Sturm gegen die Inhaftierung. Schließlich stellte die SPD-Politikerin Susi Möbbeck, Integrationsbeauftragte Sachsen-Anhalts, für K. einen Antrag bei der Härtefallkommission des Landes. Dadurch ist die Abschiebung erst einmal ausgesetzt, diesen Freitag wird sein Fall verhandelt. Sie hoffe, sagt Möbbeck der taz, die Kommission davon überzeugen zu können, dass K. „beruflich wie gesellschaftlich in Deutschland angekommen ist und dass eine Abschiebung eine besondere Härte bedeuten würde“.

Sein Anwalt will K. eigentlich eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 25b Aufenthaltsrecht beschaffen, einer Regelung für besonders gut integrierte Geduldete. Eines von mehreren Kriterien ist aber, dass die betreffende Person seit mindestens acht Jahren in Deutschland lebt. Bei Florentin K. sind es sieben.

Zur Überbrückung könnte eine Regelung aus dem Koalitionsvertrag herhalten, betont hingegen Pro Asyl: Mit dem sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht will die Bundesregierung für gut integrierte Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus eine Bleiberecht-Perspektive schaffen. Demnach sollen Geflüchtete, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen“ eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen.

Das Problem: Der 1. Januar 2022 ist schon längst verstrichen, das Chancen-Aufenthaltsrecht aber immer noch nicht verabschiedet. Menschen, die die im Koalitionsvertrag genannten Kriterien erfüllen, sind immer noch von Abschiebung bedroht. Das SPD-geführte Bundesinnenministerium bemühe sich vor diesem Hintergrund, das Vorhaben „besonders zügig“ umzusetzen, teilt eine Sprecherin auf taz-Anfrage mit. Die entsprechenden Vorarbeiten für ein Gesetzgebungsverfahren hätten bereits begonnen. Wann das Chancen-Aufenthaltsrecht voraussichtlich in Kraft treten wird, kann das Innenministerium nicht sagen.

Einige Bundesländer haben entschieden, nicht abzuwarten. So hat etwa das Integrationsministerium von Rheinland-Pfalz den Landesausländerbehörden Ende Dezember 2021 mitgeteilt, es gebe „keine fachaufsichtlichen Einwände“, wenn die geplanten Abschiebungen von Menschen, die unter die Regelung fallen würden, erst einmal „zurückpriorisiert“ würden.

Theoretisch könnten alle übrigen Bundesländer dem Beispiel von Rheinland-Pfalz folgen. Wie eine Recherche der taz zeigt, haben das bislang aber nur drei weitere Länder getan: Schleswig-Holstein, Bremen und Thüringen. In Niedersachsen, wo nach Angaben von Pro Asyl Mitte Januar noch ein Pakistaner abgeschoben wurde, der alle von der Bundesregierung formulierten Kriterien erfüllte, erklärt das Innenministerium auf taz-Anfrage, es werde derzeit „intensiv geprüft, inwieweit kurzfristig für den vom Koalitionsvertrag betroffenen Personenkreis Vorgriffregelungen möglich sind“. Ebenso sieht es in Berlin aus. Alle anderen Länder wollen auf das Bundesgesetz warten und lehnen vorgreifende Maßnahmen ab.

Selbst Nordrhein-Westfalen, dessen Integrationsminister Joachim Stamp von der FDP das Migrationskapitel im Koalitionsvertrag federführend mitverhandelt hat, stellt entsprechende Fälle bislang nicht zurück. Man unterstütze das Vorhaben und begleite den Prozess „gewohnt konstruktiv“, heißt es aus dem Ministerium. „Sobald bundesgesetzliche Regelungen vorliegen, wird Nordrhein-Westfalen diese im Sinne gut integrierter Ausländer umsetzen.“

Während neben Nordrhein-Westfalen auch andere Bundesländer das geplante Chancen-Aufenthaltsrecht grundsätzlich begrüßen, kritisieren Bayern und Hessen es scharf. „Jemanden mit einem Bleiberecht zu belohnen, wenn er es nur lang genug geschafft hat, entgegen geltendem Recht im Land zu bleiben, wäre eine Kapitulation des Rechtsstaates“, erklärt ein Sprecher des CSU-geführten bayerischen Staatsministeriums des Inneren gegenüber der taz. Aus Hessens Innenministerium heißt es, dieses Vorhaben der Bundesregierung füge sich „in eine Reihe von weiteren ein, die aus unserer Sicht keine Strategie erkennen lassen, sondern vielmehr in der Realität zu Pull-Faktoren für illegale Migration und zugleich der Beförderung der menschenverachtenden Schleuserkriminalität dienen könnten“. Auch hier ist der zuständige Minister von der Union – doch in der Landesregierung sitzen auch die Grünen, die im Bund maßgeblich Anteil am geplanten Chancen-Aufenthaltsrecht hatten.

„Ich hatte das Gefühl, wie ein Verbrecher behandelt zu werden“

Florentin K., Geflüchteter

Entsprechend verstimmt reagieren die hessischen Grünen auf die Aussagen aus dem Innenministerium: „Kritik an diesen Regelungen ist nicht die Position der hessischen Koalition und damit auch nicht der Landesregierung“, sagt der Fraktionsvorsitzende Mathias Wagner der taz.

Filiz Polat, migrationspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, nennt das geplante Chancen-Aufenthaltsrecht einen „zentralen Baustein“ des angekündigten „Paradigmenwechsels“ in der Migrationspolitik der Ampelkoalition. Sie begrüßt die Initiative einiger Bundesländer ausdrücklich. Menschen, die von der Neuregelung profitieren könnten, „vorzeitig abzuschieben“, sei eine „verpasste Chance“.

Die Linksfraktion im Bundestag kritisiert, dass immer wieder Menschen abgeschoben würden, die die Anforderungen für das Chancen-Aufenthaltsrecht erfüllen. „Das ist für die Betroffenen eine Katastrophe und rechtsstaatlich schwer erträglich“, erklärt die Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali. Bundesinnenministerin Nancy Faeser müsse die Bundesländer darum bitten, bis zur gesetzlichen Neuregelung keine potenziell Bleibeberechtigten mehr abzuschieben. „Ich verstehe nicht, wieso das nicht schon längst passiert ist“, sagt die Linken-Politikerin.

Das Bundesinnenministerium jedoch plane nicht, „im Vorgriff auf die zu erwartende Rechtsänderung Hinweise an die Länder zum Umgang mit potenziell Berechtigten zu geben“, wie es auf Anfrage mitteilt. Das Chancen-Aufenthaltsrecht sei noch nicht konkret ausgestaltet. Für Peter von Auer von Pro Asyl sind die Ausführungen des Bundesinnenministeriums „nicht nachvollziehbar“. Schließlich stehe im Koalitionsvertrag schon sehr konkret, wer unter das Gesetz fallen werde.