Raketen auf die Gedenkstätte Babyn Jar

Schäden an der Nazi-Mordstätte: Der ukrainische Präsident Selenskyi wirft den Angreifern vor, die Geschichte auslöschen zu wollen

„Was kommt da noch, wenn jetzt schon Babyn Jar bombardiert wurde?“, fragt Selenskyi

Von Klaus Hillenbrand

Putins Krieg macht auch vor Gedenkstätten an die Massenmorde der Nazis nicht halt. Am Dienstag starben nach ukrainischen Angaben bei einem Raketenangriff auf den Fernsehturm von Kiew mindestens fünf Menschen. Der 1973 errichtete Turm grenzt direkt an das Gelände eines der furchtbarsten Massaker im Zweiten Weltkrieg. In der Schlucht von Babyn Jar ermordeten SS-Einsatzgruppen am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.000 jüdische Frauen, Kinder und Männer. Auch deutsche Soldaten hatten daran ihren Anteil: „Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen“, heißt es in einem Bericht des Generalfeldmarschalls Reichenau. Insgesamt wurden auf dem Gelände von Babyn Jar bis zur Befreiung mehr als 100.000 Menschen ermordet.

Bei dem Angriff vom Dienstag geriet nach Angaben von Nathan Scharanskyi von der Gedenkstätte Babyn Jar ein Gebäude in Brand, das als Standort für ein künftiges Museum vorgesehen war. Darin habe man Versuche der früheren Sowjetunion darstellen wollen, das Gedenken an der Holocaust zu unterdrücken.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi, der selbst jüdische Vorfahren hat, fragte: „Was kommt da noch, wenn jetzt schon Babyn Jar bombardiert wurde?“ Der Angriff zeuge davon, dass für die absolute Mehrheit der Russen Kiew fremd sei. Nun versuche Russland, die ukrainische Geschichte auszulöschen. Das Gelände von Babyn Jar befand sich im Zweiten Weltkrieg außerhalb von Kiew. Nach der Befreiung durch die Rote Armee fand zwar eine Untersuchung der Mordstätte statt, die sowjetische Führung verbot aber ein Gedenken an die jüdischen Opfer. Wie überall im Land war nur von getöteten „Sowjetbürgern“ die Rede.

Lange Zeit wurde keinerlei Erinnerung zugelassen, stattdessen entstand dort eine Müllkippe. Die Schlucht wurde zugeschüttet. Der jüdische Friedhof, an dem sich die Opfer 1941 sammeln mussten, musste eingeebnet werden, dort entstand das Fernsehzentrum. Erst 1976 errichteten die Sowjets ein gewaltiges Denkmal, das den ruhmreichen Sowjetsoldaten gewidmet ist.

Das Gelände, mittlerweile mitten in der Stadt gelegen, ist heute eine große Parkanlage. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine begann eine bis heute andauernde Debatte um die Form des Gedenkens, auch weil in Babyn Jar verschiedene Opfergruppen ums Leben kamen. Heute findet sich dort sowohl ein Mahnmal für die getöteten Juden in Form einer Menorah als auch ein stilisierter Pferdewagen, der an den Mord an Roma erinnern soll. Ein Kreuz steht für den Mord an Christen, ein anderes Mahnmal gedenkt der verschleppten ukrainischen Zwangsarbeiter und ein weiteres ukrainischer Nationalisten.

Diese Fragmentierung der Erinnerung stieß in der Ukraine auf Kritik. In den letzten Jahren kam es zu intensiven Kontroversen um die Zukunft von Babyn Jar, wie sie in Russland undenkbar wären. Dort hat sich Erinnerungspolitik kaum gewandelt: Im Mittelpunkt steht seit fast 80 Jahren der glorreiche Rotarmist.

Mehr als eine Million Nazi-Opfer der Nazis liegen noch heute in Massengräbern verscharrt in der Ukraine. Die deutsch-ukrainische Initiative „Erinnerung bewahren“ hat sich in jüngster Zeit darum bemüht, diesen Menschen durch die Gestaltung von Gedenkstätten auch in der Provinz ein würdiges Andenken zu bewahren. Der Krieg hat eine Fortsetzung dieser Arbeit unmöglich gemacht.