Russland marschiert in die Ukraine ein

Seit dem frühen Morgen ist das gesamte Land unter Beschuss, russische Truppen greifen auf breiter Front an. Die Ukraine leistet heftigen Widerstand und bittet die Welt um Hilfe

Von Dominic Johnson

Russland hat am Donnerstag im Morgengrauen auf breiter Front seinen lang angekündigten Angriff auf die Ukrai­ne begonnen. Die ersten Explosionen meldeten Bewohner von Kiew kurz nach 5 Uhr früh, es folgten weitere Angriffe mit Raketen und Artillerie. Ziele waren Luftwaffenbasen und militärische Einrichtungen im ganzen Land. Auch Wohnhäuser und Zivilisten wurden getroffen, etwa in der Millionenstadt Charkiw. Videos aus verschiedenen Orten in sozialen Netzwerken zeigten am Morgen unter anderem brennende Wohnblocks, ein totes Kind auf einer Straße und einen vor laufender Kamera von einem Granateneinschlag zerfetzten Radfahrer.

Noch am Vormittag überquerten russische Truppen an mehreren Orten die Grenze und drangen in die Ukraine ein. Drei Hauptangriffsrouten waren zu erkennen: aus der russisch besetzten Krim in Richtung des Dniepr-Flusses, was offensichtlich relativ schnell ging; aus Russland in Richtung der grenznahen Stadt Charkiw, wo russische Einheiten sehr schnell Außenbezirke der Stadt erreichten, aber in verlustreiche Kämpfe verwickelt wurden; und aus Belarus in Richtung der 90 Kilometer entfernten ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Den Vorstoß auf Kiew unternahmen russische Truppen aus Belarus unter anderem in der Sperrzone um das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl, das sie nach ukrainischen Angaben unter Kontrolle zu bringen versuchen, mit unabsehbaren Konsequenzen. Ihr Ziel war zunächst der wichtige Luftwaffenstützpunkt Hostomel 30 Kilometer westlich von Kiew. Seine Kontrolle würde Russland Luftlandungen für einen direkten Angriff auf Kiew ermöglichen. Im Verlauf der Kämpfe wurden mehrere russische Hubschrauber abgeschossen; die Aufnahmen wurden breit auf sozialen Medien geteilt. Am Abend landeten Berichten zufolge erste russische Fallschirmjäger auf Hostomel; die ukrainische Armee begann prompt eine Offensive, um sie einzukesseln.

Eine deutliche russische Übermacht zeigte sich im Süden der Ukraine, wo die aus der Krim eingerückten russischen Kräfte bis zum Mittag offenbar pro­blemlos 60 Kilometer bis zum Dniepr vorrückten und begannen, ihn zu überqueren. Auch in nordostukrainischen Grenzgebieten rückten russische Soldaten auf ukrainisches Gebiet vor. An der „Kontaktlinie“ zu den russisch besetzten Separatistengebieten im ost­ukrai­ni­schen Donbass wurde heftig gekämpft. Doch Russland stößt keineswegs überall widerstandslos vor. Die Offensive bei Charkiw kam ins Stocken. Meldungen über erfolgreiche russische Angriffe auf die Hafenstädte Mariupol und Odessa wurden nicht bestätigt.

Bereits nach wenigen Stunden zählten ukrainische Quellen landesweit sieben abgeschossene russische Kampfflugzeuge, dazu eine stündlich wachsende Zahl abgeschossener Kampfhubschrauber, zahlreiche zerstörte Panzerfahrzeuge und eine ungenannte Zahl von Kriegsgefangenen, nach Fotos zu urteilen zumeist blutjunge Rekruten. Stimmen die Angaben, hat Russland an einem einzigen Tag Krieg in der Ukraine mehr Rüstungsmaterial verloren als in sieben Jahren Kampfeinsatz in Syrien.

Das russische Militär hat nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau 74 ukrai­ni­sche Militäreinrichtungen zerstört, darunter 11 Luftwaffenstützpunkte. Das Ministerium bestätigte den Verlust lediglich eines Kampfflugzeugs.

„Dies ist nicht wie die USA im Irak 1991 oder 2003“, bilanzierte am Mittag auf Twitter ein Journalist der britischen Militärfachzeitschrift UK Defence Journal die ersten Stunden der russischen Offensive. „Russland setzt einige Marschflugkörper und präzisionsgelenkte Munition ein, aber unternimmt keine flächendeckenden Angriffe. Die ukrainische Luftwaffe ist vermutlich kampfunfähig, ihre Flugzeuge am Boden wurden von den frühen Schlägen schwer getroffen und sie haben sowieso nicht viele. Die ukrai­nische Luftabwehr funk­tio­niert und schießt Flugzeuge ab. Die Russen konnten ihre Offensive nicht in der Nacht starten, wegen begrenzter Nachtsichtkapazität und fehlender Navi-Ausrüstung, sie mussten das Tageslicht abwarten. Die ukrainischen Bodenstreitkräfte werden nicht sofort in Stücke gerissen.“

Russische Militärhubschrauber über einem Außenviertel von Kiew am Donnerstag. Die russische Luftwaffe konzentrierte sich zunächst auf die Einnahme der ukrainischen Luftwaffen­basis Hostomel außerhalb der Hauptstadt Foto: Ukrainian Police Department/ap

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verhängte das Kriegsrecht und bat die Welt um Hilfe. „Russland hat die Ukraine in einer feigen und selbstmörderischen Weise angegriffen, wie Nazideutschland es im Zweiten Weltkrieg getan hat“, sagte er. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) berichtete in Wien von einem dramatischen Telefonat mit Selenskyj: „Der ukrainische Präsident hat mit den Worten begonnen, er meldet sich aus einem Land, wo er nicht mehr weiß, wie lange es besteht, und er meldet sich als Präsident, ohne zu wissen, wie lange er noch am Leben ist.“ Der ukrainische Präsident „ersucht Europa und die Welt um Hilfe und fürchtet um die Existenz seines Landes.“

Die Nato aktivierte erstmals ihre Verteidigungspläne, die sie nach der russischen Annexion der Krim 2014 vorbereitet hat. Die Nato-Militärführung kann nun Truppen von den Mitgliedstaaten anfordern und die Eingreiftruppe Nato Response Force (NRF) mit bis zu 40.000 Soldaten zum Einsatz bringen. „Wir haben jetzt Krieg in Europa in einem Ausmaß und einer Art, von der wir dachten, dass sie der Geschichte angehört,“ sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Die Nato-Spitzen wollen am Freitag über den Schutz Osteuropas beraten. Polen, Bulgarien, Tschechien, die Slowakei, Estland, Lettland und Litauen haben Beratungen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags verlangt.

Frankreichs Präsident Macron sprach in einer kurzfristig angesetzten Rede von einem „Wendepunkt in der europäischen Geschichte“. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson kündigte verstärkte militärische Unterstützung für die Ukraine an.

(mit rtr, afp, ap, dpa)