Widerstand in Literatur: „In Italien liegt alles offen“

Vor hundert Jahren wurde der italienische Schriftsteller und Partisan Beppe Fenoglio geboren. Bestsellerautorin Francesca Melandri über sein Erbe.

Portträt von Beppe Fenoglio

Der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Beppe Fenoglio

taz: Frau Melandri, am 1. März werden Sie bei einer Veranstaltung in Berlin den Schriftsteller und Partisanen Beppe Fenoglio würdigen anlässlich seines 100. Geburtstages. Für die Neuauflage seines Romans „Eine Privatsache“ haben Sie auch das Nachwort geschrieben. Was bedeutet Ihnen Fenoglio? Und warum sollten wir den in Deutschland wenig bekannten Schriftsteller lesen?

Francesca Melandri: Also ich persönlich bin einfach ein bisschen verknallt in Fenoglio, ich bin Team Fenoglio! Und lesen sollten ihn die Deutschen aus den gleichen Gründen wie die Italiener: Fenoglio ist wahrscheinlich der Schriftsteller der Epoche der resistenza, also des Widerstands gegen die deutschen Nazibesatzer und die italienischen Faschisten, der sich am besten gehalten hat. Denn ihm ist es gelungen, von diesem großartigen Kollektivereignis auf eine zeitlose, allgemeingültige Art zu erzählen, obwohl er selbst aktiver Partisan war und sehr in seiner Zeit verankert – er hat schließlich für die Sache des Antifaschismus sein Leben riskiert.

Ist da nicht ein Widerspruch, zwischen Zeitlosigkeit und Konkretheit?

Das ist eben der Grund, warum man ihn am Anfang nicht verstanden, auch gar nicht erst verlegt hat. Seine Bücher behandelten die resistenza als menschliche Erfahrung, nicht als etwas Ideologisches. Wenn wir heute noch Dante lesen, dann nicht in erster Linie, weil wir uns über die Streitigkeiten der Parteien im mittelalterlichen Florenz informieren wollen, sondern weil uns das Individuum interessiert, das aufgrund solcher Konflikte im Exil leben muss.

geboren 1964 in Rom, begann als Drehbuchautorin und hat mit ihren Romanen „Eva schläft“ (2010), „Über Meereshöhe“ (2012) und „Alle, außer mir“ (2017) die italienische Zeitgeschichte intensiv befragt. Mit dieser „Trilogie der Väter“ gehört sie zu den bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Derzeit lebt sie im Rahmen des „Berliner Künstlerprogramms“ des DAAD in Berlin. Ihre und Beppe Fenoglios Werke liegen auf Deutsch im Wagenbach-Verlag vor.

Fenoglios Einzigartigkeit, um die ihn berühmtere Schriftsteller wie etwa Italo Calvino, der auch Partisan war, beneidet haben, liegt in der Art, wie er das Trauma des Krieges, aber eben auch die resistenza, diese große Bewegung, die Italien seine Würde zurückgegeben hat, literarisch durchgearbeitet hat. Dass der Nazismus das absolut Böse war, bedeutete für ihn nicht, dass die Partisanen das absolut Gute verkörperten.

Sie waren Menschen: komplizierte, mangelhafte, unsympathische, jedenfalls zwiespältige Wesen, wie auch die Bevölkerung, wie auch die Faschisten. Bei Fenoglio gibt es dieses plötzliche Aufblitzen von Schönheit, genauso plötzliche Scheußlichkeit und Gemeinheit, Feigheit. Alles gemischt – denn so sind wir.

Beppe Fenoglio, geboren 1922 in Alba, Piemont, studierte Philologie in Turin und begann früh, aus dem Englischen zu übersetzen. 1944 schloss er sich den Partisanen an. Nach dem Krieg arbeitete er für eine Weinexportfirma, was ihm Zeit fürs Schreiben ließ. 1963 starb er in Turin. Die Bedeutung seiner Texte wurde erst nach seinem Tod erkannt.

Am 1. März findet eine Beppe Fenoglio-Lesung sowie ein Gespräch mit Francesca Melandri im Literaturhaus Berlin statt, veranstaltet u. a. vom Italienischen Kulturinstitut Berlin. Die Veranstaltung wird auch live gestreamt.

Und das wollte man im Nachkriegs­italien so nicht hören?

Ich kann die Gründe für die Entscheidung, Fenoglio nicht zu veröffentlichen, nachvollziehen, auch wenn ich sie natürlich für falsch halte wegen der literarischen Qualität der Texte. Jede Vision hat ihre Zeit. Manche wie Fenoglio sind eben schneller.

Die Kulturfunktio­näre der Nachkriegszeit wollten klare Verhältnisse. Denn als Verbündeter Hitlers war Italiens Rolle ja doch einigermaßen erniedrigend gewesen. Das war der politische Gedanke damals, aber heute sind wir zum Glück und unverdienterweise weiter und können uns anders einlassen auf diese Darstellung des Individuums, das in bestimmte historische Umstände gerät. Und das ist natürlich auch das, was mich in meiner Arbeit als Schriftstellerin interessiert.

In Ihrem Roman „Alle, außer mir“ gibt sich der Familienpatriarch Attilio Profeti als Partisan aus, in Wirklichkeit war er Faschist und beteiligt an Kriegsverbrechen im kolonialen Eroberungskrieg gegen Äthiopien. Ist das typisch für die Anverwandlung des Erbes der Partisanenzeit in Italien?

Lassen Sie mich ein wenig italophil antworten. In Italien liegt immer alles offen, die Mafia, die Korruption und so weiter. Auch die Wendehalsigkeit der Italiener ist evident, aber ich denke nicht, dass sie größer ist als die bei den Deutschen, bei all den Nazijuristen etwa, die nach dem Krieg im Amt blieben. Ich arbeite seit Jahren an einem Buch über die USA. Ihre Geschichte ist die einer absoluten Verdrängung ihrer historischen Verantwortung.

Die Forschung ist da, aber der Durchschnittsamerikaner weiß nichts davon, die Rassentrennung, die Lynchmorde, all das wird schulisch kaum beziehungsweise erst seit Kurzem vermittelt – und konservative US-Staaten verbieten diese Themen schon wieder als Unterrichtsstoff. Was Deutschland seit den Debatten der 1980er Jahre an „Vergangenheitsbewältigung“ geleistet hat, ist die absolute Ausnahme.

Wenn ich mit „Alle, außer mir“ auf Tour bin und die Leute mich fragen, warum Italien sich nie seiner Vergangenheit als Kolonialmacht gestellt hat, dann antworte ich immer: Weil das nie jemand macht! Das ist die Norm. Und die Deutschen haben es auch nur deswegen gemacht, weil sie verloren haben. Die Geschichte hat sie dazu gezwungen.

In Großbritannien ist die Debatte um die koloniale Vergangenheit sehr lebhaft und gewiss fortgeschrittener als in Deutschland oder Italien, denn die Kolonialzeit hat dort viel länger gedauert und hatte ganz andere Ausmaße. Aber die Struktur der Gesellschaft hat das nicht verändert.

Hat Italien durch die Partisanen doch noch den Krieg gewonnen?

Nein. Jedenfalls nicht militärisch, das haben die Alliierten gemacht. Und doch war die resistenza keine kleine Sache. Sie war wie ein Floß, auf das sich die Nation gerettet hat, die moralische Rehabilitation; und sie hat dazu geführt, dass die italienische Verfassung überparteilich verabschiedet wurde, eine der schönsten Verfassungen, die es auf der Welt gibt.

Was ist denn geblieben von diesem großen antifaschistischen Aufbruch? Wie geht es der Linken heute in Italien und anderswo?

Nette Frage! (lacht) Ich habe keine Antwort, nur ein paar Anmerkungen. Wir blicken heute zurück auf 40 Jahre, in denen das Pendel der Geschichte auf zumeist grausame und zerstörerische Weise in Richtung des Neoliberalismus ausgeschlagen ist, dem triumphierenden Kapitalismus als einzigem Antreiber der Geschichte. Damit einher ging eine Entpolitisierung und, sagen wir, Hyperfinanzialisierung.

Die Welt funktioniert über den Profit, über den sogenannten freien Markt. Die sozialen Kosten dieses Profistrebens werden auf alle umgelegt, die Profite werden privatisiert. Und jetzt, mit der Pandemie, aber schon vorher, ist das Pendel … – sagen wir, es steht still. Und nun fragen wir uns: Wohin geht es? Vielleicht in die andere Richtung? Vielleicht schneller, als wir es jetzt uns noch vorstellen können? Die früheren linken Parteien, Demokraten in den USA, Labour, SPD, PD in Italien, sie sind in den zurückliegenden Jahrzehnten alle mit dem Pendel gegangen.

Corona hat uns nun die Chance gegeben, die Dinge zu betrachten, wie sie wirklich sind: Zu schauen, wer hier eigentlich leidet, wenn es ernst wird. Wir nicht! Wir, die wir vor dem Computer sitzen und nicht unbedingt rausmüssen. In meinem Viertel in Rom, dem Esquilin, ist die Armut explodiert, die Leute brauchen kostenlose Lebensmittel – und das betrifft nicht nur Migranten.

Und das ist doch der Ausgangspunkt für jedes Linkssein: Sich darum zu kümmern, dass so wenige Menschen wie möglich leiden. Das Glück kann man niemandem garantieren, aber das Leid bekämpfen – das können wir.

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