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Wie viel Polizeigewalt darf wirklich sein?

Oberlandesgericht Schleswig: Schießt die Polizei, muss das Opfer bei einer Klage zuerst das „Übermaß“ des Waffeneinsatzes beweisen

Von Esther Geißlinger

Aus dem Fenster beschimpfte der Mann Nachbar*innen. Die riefen die Polizei, kurz danach standen Be­am­t*in­nen in der Wohnung des Kielers, der – wie sich später herausstellte – Drogen und Medikamente im Blut hatte. In der Wohnung kam es zum Konflikt: Der bewaffnete Mann drohte, „alle umzubringen“. Ein Polizist floh nach draußen, seine Kollegin brachte sich im Bad in Sicherheit. Von dort schoss sie und verletzte den Mann am Bauch. Nach jahrelangem Rechtsstreit entschied nun das Oberlandesgericht in Schleswig zugunsten der Polizistin und legte generell fest: Wenn in einer Situation die Polizei „unmittelbaren Zwang“ ausüben dürfe, müssen die Betroffenen beweisen, ob das „Übermaßverbot“ gilt. Ein Beweis, der schwer zu führen ist, befürchten Kritiker*innen.

Der Kieler Fall hatte sich bereits im Jahr 2013 ereignet. Der Mann verklagte das Land auf Schmerzensgeld, das Landgericht Kiel entschied zunächst zugunsten des Mannes: Da beide Seiten unterschiedliche Aussagen darüber machten, was sich genau ereignet hatte, und im Prozess nicht feststellt werden konnte, wessen Schilderung der Wahrheit entsprach, verurteilte das Gericht das Land dazu, dem Verletzten ein Schmerzensgeld von 22.500 Euro zu zahlen. Dagegen legten beide Seiten Rechtsmittel ein.

In der zweiten Instanz kamen die Rich­te­r*in­nen zu einem anderen Schluss: Zwar ließ sich der Ablauf weiterhin nicht feststellen, diesmal aber wirkte sich das zu Lasten des Mannes aus. Denn in der unübersichtlichen Situation, in der der Mann allen Anwesenden mit Gewaltanwendung drohte, sei „der sofortige Schuss der Polizistin erforderlich gewesen, um ihn angriffsunfähig zu machen und so einen Angriff von ihr abzuwenden“, zitiert die Nachrichtenagentur dpa aus der Urteilsbegründung. Daher sei die Beamtin „zur Ausübung unmittelbaren Zwangs berechtigt“ gewesen. Die Beweislast, dass sie dabei gegen das sogenannte Übermaßverbot verstoßen hätte, läge beim Opfer, entschied der 11. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in seinem Urteil vom 11. November (Aktenzeichen 11 U 92/20).

Das Übermaßverbot ist ein Grundsatz, der für alle staatlichen Organe gilt, am deutlichsten sichtbar ist er bei Polizeieinsätzen. Es geht darum, dass ein Gesetz oder eine konkrete Maßnahme keine unverhältnismäßig harten Folgen für Einzelne haben darf – simpel ausgedrückt, darf der Staat nicht „mit Kanonen auf Spatzen schießen“.

„Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist Maxime allen staatlichen Handelns, insbesondere natürlich des polizeilichen“, sagt Torsten Jäger, Schleswig-Holsteinischer Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Das Gewaltmonopol, also das Recht der Polizei, Personen festzuhalten oder Waffen gegen sie einzusetzen, sei Teil dieses Handelns – „Das ist also nicht neu und Grundlage einer umfänglichen und guten Polizeiausbildung“, so Jäger. Im konkreten Fall sei das Urteil eine „Erleichterung“, sagt der Polizeigewerkschaftler. „Die Polizeibeamtin musste sich seinerzeit in schwierigster und bedrohender Situation in kürzester Zeit entscheiden, jahrelange strafrechtliche und zivilrechtliche Überprüfungen folgten. Das ist richtig und normal im Rechtsstaat, aber Beleg für den außerordentlich schwierigen Beruf der Polizeibeamtin und des Polizeibeamten, die nicht nur die Situation zu lösen haben, sondern auch die Zeit danach aushalten müssen.“

Auch Schleswig-Holsteins Innenministerin Sütterlin-Waack (CDU) begrüßte, dass das Verfahren nach inzwischen acht Jahren nun einen Abschluss gefunden habe. „Die Argumentation des Oberlandesgerichts ist aus meiner Sicht schlüssig und nachvollziehbar“, sagte sie auf taz-Anfrage. „Ich hoffe, dass dieses Urteil die betroffene Polizistin nicht nur juristisch, sondern auch persönlich entlastet.“ Denn der Einsatz der Schusswaffe, den Po­li­zis­t*in­nen nur als letztes Mittel einsetzen würden, bedeute trotz aller Ausbildung „jedes Mal eine besondere Belastung“. Auf die polizeiliche Praxis habe das Urteil keine Auswirkungen, so die Ministerin.

Ob das Urteil doch über den Fall hinaus wirkt, muss sich zeigen. Die Antifa-Gruppe Kiel sieht die Entscheidung kritisch: „Grundsätzlich ist es für Ak­ti­vis­t*in­nen nur in Ausnahmefällen möglich, ihr Recht gegen Po­li­zei­be­am­t*in­nen durchzusetzen“, heißt es auf taz-Anfrage. „Polizist*innen gelten vor Gericht qua Amt als glaubwürdige Zeu­g*in­nen und decken sich nach gewalttätigen Einsätzen häufig gegenseitig, insbesondere in Fällen von Polizeigewalt bei Demosituationen.“ Schon heute gebe es „dehnbare Strafbestände“ wie den § 113, der „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ regelt und mit dem „schon jetzt regelmäßig eine Täter*innen-Opfer-Umkehr vorgenommen“ werde. Werde künftig die Beweislast beim „Übermaßverbot“ von vornherein zu Ungunsten der Opfer ausgelegt, „dürfte dies das juristische Vorgehen gegen Polizeigewalt zukünftig nochmals erschweren“, so die Befürchtung.

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