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Chile wählt links

Er erhielt die höchste Stimmenzahl der Geschichte des Landes: Gabriel Boric wurde von Jungen, Frauen und Nicht­wäh­le­r:in­nen vor dem Rechtsextremen José Antonio Kast ins Amt gewählt

Kleiner Mann, was nun? In den designierten Präsidenten Chiles, Gabriel Boric, werden große Hoffnungen gesetzt Foto: Javier Torres/afp

Aus Santiago de Chile Sophia Boddenberg

Mit Autokorsos, Trommeln und Musik ziehen Tausende Menschen über die Alameda, die Hauptverkehrsader von Chiles Hauptstadt Santiago. Sie feiern den Wahlsieg von Gabriel Boric. „Piñera, du bist ein Mörder, genau wie Pinochet“, schmähen sie den bisherigen Präsidenten, als sie am Regierungspalast La Moneda vorbeiziehen. Von dort aus wird ab März 2022 der jüngste Präsident der Geschichte Chiles regieren. Der 35-jährige Gabriel Boric hat sich mit rund 56 Prozent der Stimmen gegen den rechtsextremen Kandidaten José Antonio Kast durchgesetzt. Umfragen hatten ein knapperes Wahlergebnis vorhergesagt.

„Heute hat die Hoffnung über die Angst gesiegt“, sagt er bei seiner Rede nach dem Wahlsieg auf einer Bühne im Zentrum San­tia­gos, an derselben Straßenecke, an der auch einst der sozialistische Präsident Salvador Allende zur Bevölkerung sprach. Hunderttausende sind gekommen, um ihm zuzuhören: Familien, junge und alte Menschen, Männer und Frauen. Sie schwenken bunte Flaggen mit der Aufschrift „Boric Presidente“, Regenbogenfahnen, Flaggen der indigenen Mapuche und der Región de Magallanes, aus der Boric stammt.

Eine von ihnen ist Paz Bustos. „Ich bin sehr glücklich über das Ergebnis“, sagt die 30-jährige Fotografin. „Endlich übernimmt eine junge Person das Präsidentenamt mit neuen Ideen. Jemand, der die Veränderungen durchführen will, die Chile braucht.“ Boric war einst Teil der Stu­den­t*in­nen­be­we­gung 2011, die sich für ein kostenfreies öffentliches Bildungssystem einsetzte. 2015 wurde er zum Parlamentsabgeordneten für die südliche Región de Magallanes gewählt. 2019 unterschrieb er inmitten der sozialen Revolte ohne die Zustimmung seiner Partei und ohne die Beteiligung der Protestbewegung auf der Straße mit der Regierung den „Vertrag für den Frieden und eine neue Verfassung“, der den verfassungsgebenden Prozess einleitete. Manche kritisieren ihn bis heute dafür.

Als Präsident will Boric eine Steuerreform durchführen, um Unternehmen und hohe Einkommen stärker zu besteuern, die privaten Rentenfonds abschaffen und eine staatliche Rentenversicherung einführen, das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem stärken, mehr in Kunst und Kultur investieren. „Was manche als Konsumgüter verstehen, wollen wir in soziale Grundrechte verwandeln“, sagt er bei seiner Rede, während die Menschen ihm zujubeln.

Stärkste Wahlbeteiligung der Geschichte

Die Wahlbeteiligung von jungen Menschen und von Frauen war entscheidend für das Wahlergebnis. Sie stimmten verstärkt für Boric, während Männer und über 50-Jährige mehrheitlich für den rechtspopulistischen Kandidaten José Antonio Kast stimmten. Kast erhielt ungefähr dieselbe Anzahl der Stimmen wie der aktuell amtierende Präsident Piñera bei der Stichwahl 2017, bei der die Wahlbeteiligung niedriger war. Boric hat es also geschafft, viele Nicht­wäh­le­r*in­nen dazu zu bewegen, für ihn zu stimmen. Er ist der Präsident mit der höchsten Stimmenanzahl der Geschichte Chiles. Mit über 55 Prozent hatte diese Stichwahl die höchste Wahlbeteiligung der Geschichte.

In den Armen- und Ar­bei­te­r*in­nen­vier­teln am Stadtrand der Hauptstadt Santiago erhielt Boric besonders viele Stimmen – dort, wo die Wahlbeteiligung normalerweise niedrig ist. Der Wahltag war dort geprägt von Beschwerden der Bewohner*innen, die teilweise stundenlang an den Bushaltestellen warten mussten, weil weniger Busse als gewöhnlich in Betrieb waren. Schließlich organisierten sich freiwillige Helfer*innen, um die Menschen in ihren eigenen Autos zu den Wahllokalen zu fahren.

„Endlich übernimmt eine junge Person das Präsidentenamt mit neuen Ideen. Jemand, der die Veränderungen durchführen will, die Chile braucht“

Paz Bustos, Fotografin und Wählerin

Boric stehen große Herausforderungen bevor: Er wird den verfassunggebenden Prozess begleiten, der aus der sozialen Revolte 2019 entstanden ist. Soziale Bewegungen wie die feministische Bewegung und die Umweltbewegung werden viel von ihm fordern, vielleicht mehr, als er umsetzen kann. Seine Koalition Apruebo Dignidad hat keine Mehrheit im Parlament und er wird mit den anderen Parteien verhandeln müssen, um sein Regierungsprogramm umsetzen zu können.

Viele Menschen wie Paz Bustos haben ihm mit ihrer Stimme ihr Vertrauen geschenkt. „Ich weiß, dass Veränderungen Zeit brauchen, aber ich vertraue ­Boric“, sagt sie. „Wir haben den Faschismus besiegt, das ist das Allerwichtigste.“

Wenige Tage vor der Wahl war die 99-jährige Witwe von Diktator Augusto Pinochet nach langer Krankheit gestorben – für viele ein Symbol für das Ende einer Ära. Gleichzeitig rief ihr Tod in Erinnerung, dass viele Verantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen während der Pinochet-Diktatur nie bestraft wurden. „Gerechtigkeit, Wahrheit, Schluss mit der Straffreiheit“, ruft die Menschenmenge auf den Straßen San­tia­gos Boric zu. Die Erwartungen an ihn sind hoch.

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