Gewalttat im Oberlinhaus: Mordprozess hat begonnen

Im April 2021 soll eine Mitarbeiterin eines Wohnheims in Potsdam vier Menschen mit Behinderung getötet haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Heimtücke vor.

Eine Person hält eine Mappe vor ihr Gesicht, davor eine Jacke mit der Aufschrift Justiz

Die Angeklagte sitzt beim Prozessauftakt im Gerichtssaal im Landgericht Potsdam Foto: Carsten Koall/dpa

POTSDAM taz | Ihre Namen konnte man in den meisten Medienberichten vom April 2021 nicht lesen: Lucille H., Martina W., Christian S. und Andreas K.. Geteilt wurden die Namen erst in sozialen Netzwerken im Gedenken an die vier getöteten Menschen mit Behinderung aus Potsdam. Viel weiß man über sie und ihre Leben nicht. In der Berichterstattung über die schreckliche Gewalttat am 28. April 2021 im Oberlinhaus, einer diakonischen Wohnungseinrichtung für Menschen mit Behinderung, dominierte die Frage nach dem Warum, der Fokus wurde auf die mutmaßliche Täterin gelegt.

In vielen Medienberichten wurde daraufhin Erklärungsansätze, wie die Überforderung der nun angeklagten Pflegerin Ines Andrea R. angebracht, die zum Teil ableistische Begriffe und Darstellungen enthielten. Betroffene wehrten sich gegen die Darstellung, dass eine solche Tat mit Worten wie „Erlösung“ in Verbindung gebracht wird. Erst spät kamen in Berichten auch Menschen mit Behinderung zu Wort. Die Tat führte auch zu einer Debatte um die Arbeits- und Lebensbedingungen in Pflegeeinrichtungen.

Am Landgericht Potsdam hat am Dienstag der Prozess gegen Ines Andrea R. begonnen. Der 52-Jährigen, die seit mehr als 30 Jahren im Babelsberger Thusnelda-von-Saldern-Haus gearbeitet hat, wird vierfacher Mord und versuchter Mord in drei Fällen vorgeworfen. In der Tatnacht soll sie insgesamt fünf Be­woh­ne­r*in­nen mit einem Messer angegriffen haben, zwei davon mehrfach. Vier Menschen starben, eine 42-jährige Frau überlebte schwer verletzt. Die mutmaßliche Täterin wurde noch in der Tatnacht festgenommen und am Folgetag in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die Staatsanwaltschaft geht von verminderter Schuldfähigkeit aus. Das besage ein psychiatrisches Gutachten.

Für den Strafprozess gegen die Angeklagte sind zehn Prozesstage bis zum 9. Dezember angesetzt. Das Gericht gab an, dass 41 Zeu­g*in­nen geladen werden, darunter mehrere Sachverständige wie eine Psychiaterin und drei Rechtsmediziner*innen.

Heimtückische, geplante Tat?

Beim Prozessauftakt am Potsdamer Landgericht war die Angeklagte anwesend und sprach zu Beginn über ihre Kindheit. Ihrer Aussage zufolge habe sie schon als Kind psychische Probleme und eine konfliktreiche Beziehung zu ihrer Mutter gehabt. Detailliert beschrieb die 52-Jährige auch einen Suizidversuch mit zwölf Jahren. Zuvor verlas Staatsanwältin Maria Stiller die Anklage und warf der ehemaligen Pflegekraft Heimtücke vor. „Ihr war bewusst gewesen, dass es sich bei den fünf Geschädigten um schwerst behinderte Menschen handelte, die nicht in der Lage waren, sich zu wehren oder Hilfe zu rufen“, sagte Staatsanwältin Stiller. Die Wehrlosigkeit der Be­woh­ne­r*in­nen habe die Angeklagte ausgenutzt.

Ines Andrea R. berichtete beim Prozessauftakt außerdem von einem belastenden und überfordernden Arbeitsalltag. Konkrete Vorwürfe, die ihren ehemaligen Arbeitsplatz betreffen, wies das Oberlinhaus bereits im Zuge des Prozesses vor dem Arbeitsgericht, bei dem es um die Kündigung der Angeklagten ging, zurück. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung beschrieb die Angeklagte vor Gericht dennoch als eine „Berufung“ und sprach auch über ihre beiden Söhne, von denen einer eine Behinderung hat.

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Nach den Äußerungen der Angeklagten schilderten Polizeibeamte dem Gericht Details zu den Ermittlungen. Demnach wurde das Tatmesser auf dem Parkplatz gefunden, den die Angestellten des Oberlinhauses nutzen.

Mord wird laut Strafgesetzbuch mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Im Falle erheblich verminderter Schuldfähigkeit kann das Strafmaß verringert werden, die Mindeststrafe liegt dann bei drei Jahren. Grund dafür kann eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung sein.

Zum Prozessbeginn erinnert die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen, Vizevorsitzende der Interparlamentarischen Gruppe von Menschen mit Behinderungen von den Grünen, an den Pflegenotstand in Deutschland und an die bestehenden Stigmatisierungen und Machtausübungen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind. „Es ist scheinbar politischer Konsens das selbständige Leben von Menschen mit Behinderung in den unterschiedlichsten Facetten zu fördern, doch getan wird dafür zu wenig“, kommentiert Langensiepen auf ihrer Webseite. (mit epd/dpa)

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