Hanno Rehlinger denkt darüber nach, was der 9. November für ihn bedeutet: Erinnern heißt Handeln
„Schicksalstag der Deutschen“ wird der 9. November genannt. Grausig! Schicksal hat dabei so etwas von Vorbestimmung, als hätte es so geschrieben gestanden. Der 9. November ist aber kein Tag der Vorbestimmung. Der 9. November ist, egal wie wir ihn erinnern, ein Tag des Handelns gewesen. 1918, 1938, 1989 sind Daten, an denen die Deutschen ihr „Schicksal“ entschieden haben – zum Guten wie zum Schlechten. Es ist immer gefährlich vom Schicksal zu sprechen, denn es beinhaltet so eine tragische Verantwortungslosigkeit.
Wenn ich an den 9. November denke, dann ist es eine bruchstückhafte Vielzahl von Erinnerungen: ich denke zum Beispiel daran, wie ich als Kind mit meinem Vater vor dem Lampenpalast stand, als gerade die Abrissarbeiten begannen.
Ich erinnere mich auch an die Leuchtballons, die 2014 entlang der Mauer just zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls in den Himmel stiegen. Ich erinnere mich aber auch an einen Auschwitz-Besuch und an die Gedenktafel, die in der Nähe meiner Straße steht, wo 1938 eine Synagoge abbrannte. Alle diese Erinnerungen sind mir wichtig und ich glaube, es tut uns allen gut, solche zu haben.
Der 9. November ist für mich ein Mahntag, denn ein Tag wie dieser ist nur nützlich, wenn man aus ihm lernt. Ich wünschte, dass wir ihm nicht ohnmächtig zublinzeln, während er mit seinen Reden und Veranstaltungen an uns vorbeizieht, sondern daran denken, wie wir uns heute zu verhalten haben: Der Antisemitismus ist mit der AfD zum zweiten Mal in den Bundestag eingezogen, Rechte Hetze nimmt überall zu und die Lage an den EU-Außengrenzen ist schrecklich.
Auch wenn der 9. November dieses Jahr ein wenig im allgemeinen Tohuwabohu der Koalitionsverhandlungen unterzugehen scheint – was auch in Ordnung ist –, dann muss das nicht Geschichtsvergessenheit bedeuten.
Ich möchte mich am 9.November auf die aktuellen Missstände konzentrieren. Aber ich möchte die damaligen auch nicht vergessen.
Und deshalb ist es gut, dass der derzeit noch regierende Bürgermeister Michael Müller heute in der Gedenkstätte Berliner Mauer sein wird und später dann mit dem Bundespräsidenten am Gedenktag der jüdischen Gemeinde teilnimmt. Denn Erinnern ist eine Form des Handelns. Und auch Trauern heißt Handeln.
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