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Buch über VerschwörungserzählungenHitler in Frauenkleidern in Dublin

Außerhalb rationaler Diskurse: Der Historiker Richard J. Evans hat Wesen und Inhalt von NS-Verschwörungstheorien untersucht.

Verschwörungstheorien haben wieder Konjunktur Foto: picture alliance/dpa

Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tauchten Gerüchte auf, Hitler sei – anders als es der deutsche Rundfunk offiziell gemeldet hatte – nicht in der Reichskanzlei gestorben. Die Berichte häuften sich in den folgenden Monaten, sodass sich das amerikanische FBI veranlasst sah, zu dem Fall eine Akte anzulegen.

Darin hielten die Agenten fest, Hitler sei von seinen eigenen Leuten im Tiergarten ermordet worden; er sei mit einem U-Boot aus Deutschland entkommen, lebe auf einer nebelverhangenen Insel in der Ostsee, in einer Felsenfestung im Rheinland, in einem spanischen Kloster oder auf einer südamerikanischen Ranch beziehungsweise sei – laut der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass – in Frauenkleidern in Dublin gesehen worden.

Richard J. Evans: „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen“. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, DVA, München 2021, 368 S., 26 Euro

Die FBI-Akte zeigt, wie schwierig es ist, die Lügen und Phantasien von Verschwörungsgläubigen wirksam zu bekämpfen, wenn diese sich auf scheinbar seriöse Quellen und Zeugen berufen.

Der renommierte englische Historiker Richard J. Evans, bekannt geworden unter anderem durch seine Studien zum Nationalsozialismus, unternimmt den Versuch, die Verschwörungstheorien des „Dritten Reichs“ zu widerlegen, und er tut dies auf überzeugende Weise.

Bekannte und beliebte Legenden

Evans konzentriert sich auf die bekanntesten Legenden: Die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“, eine antisemitische Hetzschrift über eine angebliche jüdische Weltverschwörung; der Reichstagsbrand, den wahlweise die Kommunisten oder die Nazis organisiert hätten; der Flug von Rudolf Hess, dem „Stellvertreter des Führers“, nach Schottland 1941 sowie das Verschwinden Hitlers mit Eva Braun und Schäferhund Blondie aus dem Berliner Bunker 1945.

Richard J. Evans holt in allen Fällen weit aus, er erläutert den historischen Kontext, setzt sich mit den Argumenten der Verschwörungs­theo­retiker auseinander, entkräftet deren angebliche Beweise und deckt die dahinterstehenden Motive auf, nämlich alternative Fakten zu schaffen, um die Geschichte des Nationalsozialismus umzuschreiben.

Der Autor ist sich aber dessen bewusst, wie mühsam es ist, Verschwörungsmythen als Fantasieprodukte zu entlarven: „Tatsächlich liegen einige der Wirkungsmechanismen außerhalb der normalen Praxis rationaler Diskurse. Zunächst einmal sind sie selbstdichtend, das heißt, jede Kritik, bis hin zur Bloßstellung als Plagiat und Fälschung, wird mit der Unterstellung pariert, die Kritiker seien selbst Teil der Verschwörung.“

Ohne dass Evans explizit darauf hinweist, drängen sich Parallelen zu den Verschwörungsmythen der Coronaleugner auf.

Fakt und Komplott

Fantastische Geschichten machen sich häufig an überraschenden, Aufsehen erregenden Ereignissen fest. Die Ermordung John F. Kennedys, der Absturz des polnischen Flugzeugs mit dem Präsidenten Lech Kaczyński an Bord oder der Tod Uwe Barschels in einer Genfer Hotel­bade­wanne boten Stoff für unzählige Vermutungen, abenteuerliche Spekulationen und ausgefeilte Hypothesen.

Wenn alle Fakten für die Tat eines Einzelnen oder ein Unglück sprechen, sind dies aus der Sicht der Verschwörungstheoretiker erst recht Indizien für die perfekte Planung und Ausführung eines Komplotts; so im Fall des Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe, der – je nach politischer Richtung – als Werkzeug in den Händen von Kommunisten oder Nazis hingestellt wurde.

Die Verschwörungstheorien im und über das „Dritte Reich“ ließen sich als fantastische und unterhaltsame, aber längst verstaubte Geschichten abtun, doch sie haben weiterhin Konjunktur. Evans weist darauf hin, dass zu Hitlers Flucht aus der Reichskanzlei mehr Bücher im 21. Jahrhundert erschienen sind als in den 55 Jahren davor.

Im Internetzeitalter haben die Möglichkeiten zugenommen, die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion zu verwischen und jede noch so bizarre Verschwörungstheorie zu verbreiten. Der Historiker könne dem nur, lautet Evans’ Fazit, sorgfältige, akribische Arbeit entgegensetzen. Sein Buch ist dafür ein vorzügliches Beispiel.

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