BürgerInnen treten auf die CO2-Bremse

Das jüngste Volksbegehren nimmt die erste Hürde: Knapp 40.000 Stimmen hat Berlin 2030 klimaneutral dem Senat nun zur Prüfung überreicht. Im Fall der Fälle käme es 2023 zum Volks­entscheid: über Klima­neutralität des Landes bis zum Ende des Jahrzehnts

Allein beim Klimastreik Ende September haben 10.000 unterschrieben Foto: Müller-Stauffenberg/imago

Von Manuel Aguigah
und Claudius Prößer

Exakt 39.116 Unterschriften für die Einleitung eines Volksbegehrens hat das Bündnis Berlin 2030 klimaneutral am Mittwoch der Senatsinnenverwaltung zur Prüfung übergeben. Auch wenn ein Teil erfahrungsgemäß ungültig sein wird, dürfte das Bündnis die gesetzlich geforderte Anzahl von 20.000 Unterschriften locker erreicht haben. Ein halbes Jahr hätte Berlin 2030 klimaneu­tral Zeit zum Sammeln gehabt – sie gaben ihre Listen nun schon nach drei Monaten ab.

Bei einer öffentlichen Aktion am Mittwochmittag versammelten sich rund 30 junge AktivistInnen des Bündnisses in roten Westen am Brandenburger Tor. Dort hatten sie große Bauklötze mit dem Schriftzug „Klimaneustart Berlin“ aufgebaut. In mehreren Ansprachen betonten VertreterInnen von Bündnispartnern wie Health for Future, Parents for Future und Expedition Grundeinkommen die Dringlichkeit einer früheren Klimaneutralität Berlins und lobten die gute Organisation und Geschwindigkeit beim Sammeln der Unterschriften. Die wurden anschließend in über 20 prall gefüllten Ordnern bei der Innenverwaltung abgegeben.

Allein beim Klimastreik am Freitag vor den Wahlen zum Bundestag und zum Abgeordnetenhaus hatten laut Bündnis noch einmal mehr als 10.000 DemonstrantInnen unterschrieben. Mit knapp 40.000 Unterschriften reißt Berlin 2030 klimaneutral allerdings die von vorigen Volksbegehren gelegte Latte: Nach ungefähr demselben Zeitraum hatte zuletzt Berlin autofrei 50.000 Unterschriften gesammelt, Deutsche Wohnen & Co enteignen kam 2019 auf 77.000 und der Volksentscheid Fahrrad – bei dem es ebenfalls nur um den Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens ging – sogar auf über 100.000.

Das Bündnis aus 26 Organisationen, Initiativen, WissenschaftlerInnen und UnternehmerInnen will in erster Linie eine Änderung des Berliner Energiewendegesetzes (EWG) erreichen. Das Gesetz, das den Rahmen für die Maßnahmen der Stadt gegen den Klimawandel festlegt, wurde erst im August vom Abgeordnetenhaus verschärft: Es sieht jetzt die Senkung aller klimaschädlichen Emissionen um mindestens 70 Prozent bis 2030, um 90 Prozent bis 2040 und um 95 Prozent bis 2045 vor. „Das reicht aber nicht“, sagt Bündnis-Sprecherin Jessamine Davis. Um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten und katastrophale Schäden durch die Erderwärmung zu verhindern, brauche es deutlich härtere Maßnahmen.

Bei einer Pressekonferenz am Mittwochvormittag erläuterte Berlin 2030 klimaneutral gemeinsam mit den Vertrauenspersonen Cornelia Auer, Hans-Josef Fell und Volker Quaschning noch einmal sein eigenes ambitioniertes Klimaziel: Nach der Novelle des Energiewendegesetzes, die das Bündnis erarbeitet hat und die das Volksbegehren durchsetzen soll, wäre 2030 der neue Zeithorizont für Klimaneutralität – also ein Emissionsminus von 95 Prozent in Bezug auf das Jahr 1990.

Ein weiterer Punkt: Statt der Exekutive lediglich Ziele zu setzen, wie das jetzt der Fall ist, soll das Energiewendegesetz künftig die Politik zum Handeln verpflichten. Dagegen wurde die ebenfalls von dem Bündnis geforderte Reduktion aller Klimagase, also über CO2 hinaus, nun schon im Rahmen der letzten Novelle ins Gesetz aufgenommen. Auch eine schwammig formulierte Teilanrechnung der Emissionen des BER auf Berlins Klimabilanz steht bereits im EWG, hier pocht das Bündnis aber auf mehr Genauigkeit und die Einbeziehung aller Emissionen, die auf dem Flug zum Berlin-Brandenburger Airport – oder von ihm weg – entstehen.

Vertrauensmann Volker Quaschning, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft, betonte, dass das 1,5-Grad-Ziel ambitioniert, aber erreichbar sei. „Wer jetzt anfängt zu sagen, das kriegen wir bis 2030 nicht hin, impliziert, dass man eigentlich gar nichts verändern will.“ In Berlin sei auch unter Rot-Rot-Grün „viel geredet, aber wenig getan“ worden, die Politik agiere „lustlos“. Das Vorbild anderer europäischer Großstädte wie Paris und Kopenhagen zeige, dass mehr gehe: So habe sich die dänische Hauptstadt sogar das Jahr 2025 als Ziel zur Erreichung von Klimaneu­tralität gesetzt.

Ein neues Gesetz soll die Politik zum Handeln verpflichten

Klimaschutzsenatorin Regine Günther (Grüne) hatte dagegen erst kürzlich im Gespräch mit der taz gesagt, die Radikalität von Klimaschutzpolitik müsse an der Umsetzbarkeit der Forderungen gemessen werden. Klimaneutralität in Berlin sei „selbst bei einer riesigen Kraftanstrengung nicht vor den 2040er Jahren“ erreichbar.

Eine enorme Herausforderung wäre für Berlin die schnelle Umstellung der Wärmeproduktion auf erneuerbare Energien. Eine von der Senatsverwaltung für Klimaschutz und Vattenfall vorgestellte Machbarkeitsstudie hatte bis 2030 lediglich den Ausstieg aus der Kohleverbrennung skizziert, allerdings würde erst einmal – ebenfalls fossiles – Erdgas einen großen Teil der Energie ersetzen. Hans-Josef Fell, Vertrauensmann und Initiator der Energy Watch Group, sagte hierzu, die komplette Umstellung auf Erneuerbare sei „nicht trivial“, aber möglich. Man müsse eben „innerhalb von zwei, drei Jahren Photovoltaikfabriken aus dem Boden stampfen“.

Erst einmal heißt es aber jetzt: warten. Die Innenverwaltung hat zur Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit des Volksbegehren bis zu fünf Monate Zeit, auch wenn das Bündnis „Signale erhalten haben will“, dass es nicht solange dauern wird. Anschließend geht der Gesetzentwurf dem Abgeordnetenhaus zu, das dann noch einmal maximal vier Monate Zeit hat zu entscheiden, ob es die Novelle beschließt oder mit dem Bündnis einen Kompromiss aushandelt. Geschieht das nicht, wird das Volksbegehren eingeleitet. Das Bündnis hat dann vier Monate Zeit, um 170.000 Unterschriften einzuholen. Klappt das, kommt es zum Volksentscheid – realistischerweise aber nicht vor 2023, wie Berlin 2030 klimaneutral selbst einräumt.

Die Initiative Klimaneustart Berlin, die das Bündnis für das Volksbegehren geschmiedet hat, kann schon auf einige Erfolge zurückblicken: 2019 hatte sie mittels einer Volksinitiative den rot-rot-grünen Senat dazu gebracht, eine „Klimanotlage“ auszurufen – die unter anderem zur jüngsten Verschärfung des Energiewendegesetzes führte. Eine weitere Volksinitiative führte 2020 dazu, dass das Abgeordnetenhaus einen Klima-Bürger:innenrat auf den Weg brachte. In dem Rat sollen ausgeloste BürgerInnen zusammen mit ExpertInnen der Politik Empfehlungen zu Klimaschutzmaßnahmen geben.