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„Der wahre Anteil tarnt den falschen“

Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess über die Macht von Halbwahrheiten

Foto: Bettina Hägeli

Nicola Gess

48, ist Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Ihr Buch „Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“ ist 2021 bei Matthes & Seitz Berlin erschienen.

Interview Alexander Diehl

taz: Frau Gess, was sind – in Ihrem Sinne – Halbwahrheiten?

Nicola Gess: Falschaussagen, die zu einem Teil auf tatsächlichen Ereignissen, zu einem anderen Teil auf erfundenen oder rein spekulativen Inhalten basieren. Sie gehören zu den häufigsten Formen der Desinformation. Mit sogenannten Fake News haben Halbwahrheiten nicht zwingend etwas zu tun. Halbwahrheiten können im Nachrichtenformat daherkommen, müssen es aber nicht; umgekehrt können Fake News auf Halbwahrheiten basieren, aber ebenso auch auf anderen Formen der Desinformation.

Ganz ohne wahren Anteil funktionieren sie aber nicht.

Deshalb sind sie auch so schwer zu widerlegen. Die Widerlegung einer Halbwahrheit funktioniert meistens nach dem Muster: „Ja, das und das stimmt zwar, aber das und das stimmt eben nicht.“ Das ist dann schon so komplex, dass viele Leute gar nicht mehr richtig zuhören. Und denen, die die Halbwahrheit gern glauben wollen, genügt dann schon das „Ja“ als Bestätigung. Der wahre Anteil der Halbwahrheit tarnt sozusagen die Falschaussage.

Sind Halbwahrheiten als Phänomen neu?

Nein. Wir alle machen auch ständig Gebrauch von ihnen. Halbwahrheiten sind aber ein wichtiges Instrument des sogenannten postfaktischen, politischen Diskurses, der seit einigen Jahren diagnostiziert und problematisiert wird, und das Postfaktische reüssiert immer wieder in Krisenzeiten, vor allem in Wissens- und Vertrauenskrisen. Da entsteht dann ein Vakuum, das leicht mit Halbwahrheiten und anderen Formen von Desinformation gefüllt werden kann.

Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Philosophisches Café „Die Macht der Halb­wahrheiten“ mit Nicola Gess (Moderation Barbara Bleisch): heute, 19 Uhr, Hamburg, Literaturhaus; auch als Stream (Näheres auf www.literaturhaus-hamburg.de)

Insbesondere die sozialen Medien arbeiten durch ihre innere Logik der Entstehung und Verbreitung von Halbwahrheiten zu, etwa durch den Zwang zur Komplexitätsreduktion, durch das Prinzip des Weiterleitens, das an Gerüchtekommunikation erinnert, durch eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die nicht die richtige, sondern die extreme Aussage belohnt.

Was lässt sich tun gegen Halbwahrheiten?

Faktenchecks bleiben natürlich extrem wichtig; aber wichtig ist auch, was ich „Fiktionscheck“ genannt habe. Erstens da besonders aufmerksam zu sein, wo eine Geschichte zu rund, zu gut daherkommt, mich zu gut in all meinen Erwartungen bestätigt. Zweitens nicht nur die falsche Aussage zu widerlegen, sondern auch zu schauen, wie die Falschaussage gemacht ist, welche Verfahren da zum Einsatz kommen; da fällt man dann beim nächsten Mal nicht mehr so leicht drauf rein. Drittens auch zu fragen, welche Voreinstellungen, Wünsche, Ängste da eigentlich transportiert werden. Um zu verstehen, was Leute dazu verleitet, Halbwahrheiten glauben zu schenken. Die Konjunktur von Desinformation ist ja nicht einfach nur ein Diskurs­problem, sondern sie weist auf eine soziale Krisensituation hin.

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