piwik no script img

Die Crowd als Co-Trainer

Bei dem Hamburger Oberliga-Fußballclub Concordia entscheiden die Fans mit, wie gespielt werden soll. Das geschieht über die digitale Plattform des Vereins „Club Rockit“

Von Hagen Gersie

Es steht 3:0. In jedem anderen Fall würde ein Trainer seine Mannschaft nun defensiver aufstellen und auf Konter lauern. Nicht in diesem. Im Oberliga­spiel Concordia Hamburg gegen Bramfeld entscheiden auf Seiten von Concordia die Fans mit. Und die wollen noch offensiver spielen als ohnehin schon.

Trainer Frank Pieper-von Valtier bereitet die Einwechslung vor. In den wenigen Minuten schießt Bramfeld erst ein Tor, dann ein weiteres. Enges Spiel. Der von den Fans eingewechselte Can Luka Topcu kommt ins Spiel und bereitet kurze Zeit später das Tor zum entscheidenden 4:2 vor.

Concordia hat ein Fußballprojekt gestartet: Die Community trifft Entscheidungen mit. Mitglieder der digitalen Plattform des Vereins, „Club RockIt“, stimmen über die sportlichen Entscheidungen der Mannschaft ab: Welcher Außenverteidiger soll im nächsten Spiel starten? Braucht die Mannschaft in der Halbzeit einen Wechsel, um in Schwung zu kommen? Wie war die Leistung vom Kapitän im letzten Spiel?

Die Idee dafür hatte Concordia-Berater Stefan Kohfahl während der Coronapandemie, als seine normale Arbeit als Leiter des außerspanischen Nachwuchsbereichs von Real Madrid ruhte. Sie ist nicht neu im Fußball und auch nicht am radikalsten umgesetzt. Ebbsfleet United in England und wenig später Fortuna Köln versuchten bereits Ähnliches, zum Teil mit mehr Einflussmöglichkeiten für die User. Beide Projekte scheiterten aber , da die Fan-Beteiligung an den Projekten nach einem kurzen Hype extrem abnahm.

Matthias Seidel, der Präsident von Concordia und Gründer des Fußball-Portals transfermarkt.de, war bei Fortunas Managerspiel begeistert dabei und enttäuscht über dessen Ende, sagt er. Das eigene Projekt soll erfolgreicher werden. Im Gegensatz zu Fortuna Köln würden bei ihnen alle Entscheidungsprozesse offengelegt werden, sagt Seidel. Bei Fortuna konnte die Community sogar in persönliche Vertragsstrukturen eingreifen. Das gibt es bei Concordia nicht. Dafür sind die User-Entscheidungen aber bindend.

Trainer Pieper-von Valtier kann zwar ein Veto einlegen und sich damit den digitalen Managern widersetzen. Nutzt er jedoch alle seiner vier Vetos, die ihm monatlich zustehen, können die Trainer im Netz ihn feuern. Pieper-von Valtier hat dem vertraglich zugestimmt. „Da bin ich jetzt erst mal nicht bange“, sagt er. „Ich baue und vertraue auf die Schwarmintelligenz.“

Vor dem Projektstart musste zunächst vereinsintern Zustimmung dafür eingeholt werden. „Wir sind ganz basisdemokratisch unterwegs“, sagt Kohfahl dazu. Sie hätten vom Vorstand bis zum Platzwart alle gefragt, gerade auch die Spieler. Manche waren an dem Projekt so interessiert, dass sie speziell deswegen zu Concordia gewechselt sind.

Şeyhmus Atuğ ist einer von ihnen. Der Innenverteidiger erzählt, dass er zunächst, wie weite Teile der Mannschaft, vorsichtig und skeptisch auf das Projekt reagiert habe. Nach einem Gespräch mit Kohfahl habe er sich aber bewusst dafür entschieden, weil er nochmal „etwas erleben“ wollte. Er sieht es als ein Highlight in seiner Karriere im Amateurfußball. Etwas, wovon er noch seinen Kindern in 20 Jahren wird erzählen können.

Der Basisgedanke sei es, eine große Community „für das Projekt Concordia zu begeistern“ und Möglichkeiten zu geben, die Mannschaft zu steuern, sagt Seidel. Es gehe darum, „den Amateurfußball zu zelebrieren und zu lieben“. Es gehe auch um Crowdfunding, sagt Kohfahl, und um sportliche Ambitionen wie den Aufstieg in die Regionalliga.

Nutzt Trainer Pieper- von Valtier alle seine vier Vetos, können ihn die Trainer im Netz feuern

Eine Mitgliedschaft auf der Plattform kostet sechs Euro pro Monat. Über genaue, aktuelle Nut­ze­r:in­nen­zah­len spricht Kohfahl nicht. Das ursprüngliche Ziel von 400 Nut­ze­r:in­nen innerhalb des Vereins und 2.000 aus Hamburg würden sie aber erreichen, sagt er.

Nach dem Start mit einem „minimalistisch funktionsfähigen Produkt“ werden mehr und mehr Funktionen hinzugefügt, etwa die Möglichkeit, gesammelte Aktivitätspunkte, die User für Abstimmungen und Benotungen bekommen, in Wetten einzusetzen und zu vervielfachen. Je mehr Punkte ein Mitglied hat, desto stärker wird die Stimme bei Abstimmungen gewichtet. Auch ein Forum gibt es, in dem Pieper-von Valtier einmal die Woche Rede und Antwort steht.

Die Aktivitätspunkte werden in einem Ranking erfasst und die Nutzer:innen, die in einem Jahr, einem Monat oder einer Woche am meisten Punkte sammeln, erhalten verschiedene Preise. Dabei kann die Community nur über von der Plattform vorgegebene Fragen abstimmen, zum Beispiel jede Woche über drei Startelfpositionen.

In Zukunft wollen Seidel und Kohfahl das Projekt weiter ausbauen und das Training livestreamen. Zumindest kurzzeitig ist die Mannschaft damit interessanter geworden. Verteidiger Atuğ sagt, dass normalerweise knapp 100 Leute zuschauen, beim letzten Heimspiel aber 350 Leute da waren. Das lässt hoffen. Alle relevanten Personen haben sich für zwei Jahre dem Projekt verpflichtet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen