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Die Galionsfiguren der Taliban

Nach dem US-Abzug regieren Afghanistans neue Herrscher weiter mit provisorischen Strukturen. Sie geben Offenheit vor

Nichts wie weg: Am Flughafen von Kabul liegen Habselig­keiten von Afghan:innen, die das Land verlassen haben Foto: Wakil Kohsar/afp

Von Thomas Ruttig

Im Gegensatz zu den Af­­­gha­n:in­nen ist für die USA und ihre westlichen Verbündeten der Krieg in Afghanistan seit Montag zu Ende. Um weiteren befürchteten Anschlägen am Flughafen Kabul zuvorzukommen, verließen die letzten US-Soldat:innen 24 Stunden vor Ablauf der mit den Taliban vereinbarten Abzugsfrist das Land. General Chris Donahue, Kommandeur der 82. Luftlandedivision, ging als Letzter an Bord der letzten Militärmaschine.

Zum ersten Mal ließen die USA sogar eigene Staats­bür­ge­r:in­nen in einem Konflikt zurück. Denn der Krieg in Afghanistan ist nicht zu Ende. Ausländer:innen, mit ihnen kooperierende Afghan:innen, aber auch die Taliban sind Anschlagsziele des zwar dezimierten, aber weiter aktiven afghanischen Ablegers der Terrorgruppe „Islamischer Staat“. General Frank McKenzie, Chef des auch für Afghanistan zuständigen US-Central Command in Tampa (Florida), sprach von einer Zahl „im sehr niedrigen dreistelligen Bereich“. Präsident Joe Bidens Versprechen, „niemand“ werde zurückgelassen, ist damit gebrochen. Nach Angaben von US-Veteran:innen evakuierten die USA auch nur 8 Prozent der dafür qualifizierten Af­gha­n:in­nen – etwa 88.000 Menschen.

Die Taliban feierten unterdessen mit stundenlangem nächtlichem Freudenfeuer. Talibansprecher Sabihullah Mudschahed, inzwischen zum provisorischen Informations- und Kulturminister aufgerückt, erklärte vor Kämpfern auf dem sofort besetzten Kabuler Flughafen, das Land habe nun „die volle Unabhängigkeit erreicht, Gott sei Dank“.

Mit Mudschaheds neuem Titel treten erste Konturen der ­Talibanregierung hervor. Es wird auch deutlich, dass bisher Übergangsregelungen herrschten. Mit ihrer Rahbari Schura, dem Führungsrat und den ihm unterstellten Ressortkommissionen von Finanz- bis Flüchtlingsangelegenheiten verfügen die Taliban bereits über eine Regierungsstruktur, die so auch auf Provinz- und Distriktebene in den Gebieten funktionierte, die sie schon länger kontrollierten.

Bis 2001 gab es in Kabul einen Taliban-Ministerrat, der dem Führungsrat in Kandahar unterstand. Am Sonntag bestätigte Mudschahed, dass Talibanchef Mulla Hebatullah Achundsada in Kandahar sei und Gespräche führe. Bisher hatte man ihn in Pakistan vermutet.

Provisorische Minister traten bisher bei konkreten Anlässen hervor, etwa als Hochschul­minister Maulawi Abdul Baki Hakkani am Sonntag die geschlechtergemischte Bildung an den Universitäten Afghanistans aufhob. Bereits eine Woche vorher übernahm ein weiterer Geistlicher, Mulla Muhammad Nasir Achund, die Kontrolle über das Finanzministerium und das Bankwesen. Seit Montag können die Menschen an einigen Filialen in Kabul wieder bis zu 200 US-Dollar oder 20.000 Afghani wöchentlich abheben. Es kam zu langen Schlangen. Nasir ist nicht Chef der Taliban-Finanzkommission, auch das deutete auf eine provisorische Ernennung hin.

Bidens Versprechen, „niemand“ werde zurückgelassen, ist gebrochen

Berichte, dass der frühere ­Taliban-Militärchef Sadr Ibrahim zum Innenminister und der Ex-Guantánamo-Häftling Mulla Abdul Kajum Sakir zum Verteidigungsminister ernannt worden seien, sind unbestätigt.

Ob Afghanistan wieder ein Islamisches Emirat wird, steht noch nicht fest. Noch laufen Gespräche über die Einbindung von Politikern wie Ex-Präsident Hamid Karsai, Ex-Oppositionsführer Dr. Abdullah Abdullah und Mudschahedinführern wie Gulbuddin Hekmatjar.

Die Bildung eines zwölfköpfigen Staatsrats soll zur Diskussion stehen. Auch der Rat der schiitischen Geistlichkeit in Kabul forderte eine Regierungsbeteiligung. Wenn die Taliban sich überhaupt darauf einlassen, werden solche Regierungsbeteiligungen trotzdem nur Galionsfiguren hervorbringen.