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Warum Neo wieder lebt

Lagebericht vom internationalen literaturfestival berlin: Schreiben mit der Wachowski-Schwester

Von Julia Hubernagel

Das internationale literaturfestival berlin (ilb) ist noch in vollem Gange. Jeden Abend sind mehrere Lesungen, Gespräche und Vorträge angesetzt – das Programm liest sich ehrgeizig. Doch „Festival“, das kommt von Feiern, und so kommen auch die literarischen Abende oft nicht über ein freundliches Bälle-Zuspielen hinaus.

Für Fans ist das sicher trotzdem schön, wie sich etwa vergangenen Freitag bei „The Art of Scriptwriting“ gezeigt hat. Auf der Bühne saßen die Hauptverantwortlichen für den neuen, vierten „Matrix“-Teil. Lana Wachowski hat das Sequel diesmal ohne ihre Schwester Lilly verantwortet. Stattdessen mitgewirkt haben die Drehbuchautoren Aleksandar Hermon und David Mitchell, die das gemeinsame Schreiben genossen. Im „pit“, wie die drei ihr temporäres Schreibkollektiv nennen, könne man mit halbgaren Ideen auftauchen, aus denen mithilfe der anderen etwas Neues entstünde, so Mitchell. Als Autor in einer nicht selbst erdachten Welt herumzuschreiben, sei eine interessante Erfahrung für ihn gewesen, sagt auch Hermon. Es sei schön, in diese fremde Welt einzutreten und dort willkommen geheißen zu werden. Ebenfalls neu in der Matrix ist Tom Tykwer, der zusammen mit Johnny Klimek den Soundtrack komponierte und ebenfalls auf dem Podium saß.

Warum die Figuren der „Matrix“-Trilogie nach fast zwanzig Jahren nun wieder auferstehen, hat einen traurigen Grund. Wachowski erzählt von einer schweren Zeit der Trauer, in der erst ihr Vater, dann ein Freund und schließlich ihre Mutter gestorben sind. Zumindest ihre beiden wichtigsten Figuren, Neo und Trinity, wieder ins Leben zurückzurufen, habe sich einfach sehr tröstlich angefühlt. Grenzen, die sich nur im Traum oder im Schreiben überschreiten lassen.

Um ganz andere Grenzen ging es beim ilb am Montag. Ländergrenzen waren noch nie so einfach zu übertreten wie heute, so könnte man meinen. Doch natürlich gilt das nur für wenige. Grenzen seien heute effektiver, früher habe es viele Gebiete gegeben, die gar nicht vollkommen umgrenzt waren und ein Übertritt unbemerkt geschehen konnte, sagt der Soziologe Steffen Mau, der kürzlich mit „Sortiermaschinen“ ein Buch über die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert geschrieben hat. In den 80er Jahren, dem Jahrzehnt, dessen Ende den Fall der Mauer markierte, seien etwa fünf Prozent aller Landesgrenzen weltweit Mauergrenzen gewesen. „Heute sind es 20 Prozent.“ Insbesondere in Afrika habe sich die Lage verkompliziert. Zwischen den einzelnen Staaten sei ein Grenzübertritt früher einfacher möglich gewesen. Für Europäer:innen, die im Laufe der Jahre immer mehr Länder visumfrei besuchen konnten, sind die Grenzen entpolitisiert worden. Automatische Passkontrollen etwa erschaffen die Illusion, als seien Grenzen unsichtbar.

Die Grenzen haben sich vorverlagert, sagt die Schriftstellerin Nora Bossong, die für ihren Roman „Schutzzone“ in afrikanischen Flüchtlingslagern recherchiert hat. Wer nach Deutschland will, werde nicht erst in Österreich gestoppt, sondern auf dem Mittelmeer, in Nordafrika, in der Subsahara. Bossongs Redeanteil ist deutlich geringer als Maus, doch beide beschränken sich nach einiger Zeit aufs bloße Beschreiben von Zuständen: denen im Lager, auf der Flucht, beim Beantragen von Asyl. Ohne Frage sind diese beklagenswert, doch den wirklich spannenden Punkt des Gesprächs führen sie nicht weiter aus. Für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, gibt es Asylrechte, für viele, die die Perspektivlosigkeit zur Flucht zwingt, nicht. In den nächsten Jahren wird es jedoch ganz neue Probleme geben, sagt Mau. Für Klimamigration gebe es nämlich noch keine Richtlinien.

internationales literaturfestival berlin, noch bis zum 18. 9.

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