Tunesiens Parlament bleibt blockiert: Das Vertrauen schwindet

Präsident Saied will Tunesien reformieren – und suspendiert das Parlament. Die EU sollte jetzt die Zivilgesellschaft stützen.

geschlossene Tore vor dem Parlament

Soldaten bewachen neben einem Militärfahrzeug den Haupteingang des tunesischen Parlaments Foto: Hedi Azouz/ap

Man kann Tunesiens Präsident Kais Saied nicht vorwerfen, dass er sein Wort nicht hält. Die nun verlängerte Aussetzung des Parlaments auf unbestimmte Zeit, die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten, der Hausarrest von Geschäftsleuten, die zu Zeiten des Ben Ali-Regimes reich wurden – alles Ankündigungen aus seinen Wahlkampfreden, die der damals unbekannte Juraprofessor hielt, bevor er mit überwältigender Mehrheit Präsident wurde.

Auch seinen rechtlich kaum zu rechtfertigenden Staatsstreich unterstützt eine breite Mehrheit der Bevölkerung. Gegen Saied standen bisher lediglich moderate und radikale Islamisten und die korrupte politische Elite. Jetzt aber bereitet sich auch die Zivilgesellschaft auf Widerstand vor.

Viele ausländische Analysten werfen den Tunesiern Naivität vor und befürchten ägyptische Verhältnisse: eine Ein-Mann-Herrschaft, gestützt auf die Armee und den seit 2011 nicht reformierten Polizeiapparat. Die Regierung in Washington droht bereits, die Militärhilfe für Tunesien einzustellen, sollte Präsident Kais Saied das Parlament nicht wieder einsetzen. Das wird er aber nicht tun.

Zu groß ist die Unterstützung im ganzen Land für das Ende der bisherigen Scheindemokratie. Zwar haben viele TunesierInnen nur eine vage Vorstellung von der Basisdemokratie, die Kais Saied auf seinen Touren durch die Provinz wie ein Wanderprediger mit einem Team von Freiwilligen anpries. Vielen reicht es schon, dass er sein Amt nicht zum persönlichen Vorteil nutzt. Schon das ist eine Ausnahme in einer Gesellschaft, in der zwar nun Meinungsfreiheit herrscht, aber die Bürger Politik und Staat nur als Klientelwirtschaft erleben.

Saieds Schwierigkeiten, eine neue Regierungschefin zu finden, einen schlichten Reformfahrplan vorzulegen und mit der Bevölkerung offen zu kommunizieren, sind aber bereits klare Anzeichen dafür, dass der Vertrauensvorschuss schon bald aufgebraucht sein wird.

Reform als Generationenfrage

Die nötige Reform des noch aus französischen Kolonialzeiten stammenden zentralistischen und aufgeblähten Verwaltungssystems, die Reform der wie zu Ben Alis Zeiten agierenden Polizei und Justiz ist eine Generationenfrage. Der 63-jährige Saied wird hier höchstens ein Stein des Anstoßes sein.

Die EU und Deutschland müssen nun Tunesiens Zivilgesellschaft stärken und das Land zum Partner machen, bevor die Golfstaaten dies tun.

Die junge Generation wird die Demokratie nicht mehr aus der Hand geben, sie wird gegen Kais Saied auf die Straße gehen, sollte dieser keinen nationalen Dialog starten. Doch nach Europa können junge TunesierInnen nicht einmal für einen Meinungsaustausch, die Chance auf ein Visum ist gleich Null. Wer hingegen mit dem Boot illegal nach Europa will, ist in wenigen Stunden auf Lampedusa. Auch in Tunesien scheitert die EU mit ihren Doppelstandards.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Mirco Keilberth berichtet seit 2011 von den Umstürzen und den folgenden Übergangsprozessen in Nordafrika. Bis 2014 bereiste er von Tripolis aus Libyen. Zur Zeit lebt er in Tunis. Für den Arte Film "Flucht nach Europa" wurde er zusammen mit Kollegen für den Grimme Preis nominiert. Neben seiner journalistischen Arbeit organisiert der Kulturwissenschaftler aus Hamburg Fotoausstellungen zu dem Thema Migration. Im Rahmen von Konzerten und Diskussionsveranstaltungen vernetzt seine Initiative "Breaking the Ice" Künstler aus der Region, zuletzt in Kooperation mit der Boell-Stiftung im Rahmen des Black Box Libya Projektes.

Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.