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Duma oder Gefängnis

Marina Litwinowitsch ist eine der wenigen Oppositionellen bei den anstehenden Wahlen in Russland. Sie rechnet sich gute Chancen aus – aber auch mit starkem Gegenwind

Lässt sich von starkem Gegenwind nicht so leicht umblasen: Die Oppositionelle Marina Litwinowitsch kandidiert für die Duma Foto: Alexander Zemlianichenko/ap/picture alliance

Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Es gibt in Russland keine Politiker mehr. Also musste ich selbst Politikerin werden“, sagt Marina Litwinowitsch. Die 46-jährige Kandidatin für die anstehenden Duma-Wahlen in Russland ist bestens vernetzt und doch von der Aura einer unbeugsamen Einzelkämpferin umgeben. Viele andere Widersacher des Putin-Systems hätten sich aus der Politik zurückgezogen, sagt sie. Manche seien vertrieben worden oder emigriert, andere wurden festgenommen und vor Gericht gezerrt, Hunderte vor den Wahlen aus dem Verkehr gezogen. Die trotz autoritärer Herrschaft noch lebendige Medienlandschaft wurde in den letzten Monaten endgültig trockengelegt. Die politische Lage hat sich deutlich verschlechtert, so Marina Litwinowitsch. „Das ist nicht nur eine vorübergehende Verschärfung.“

Grund genug für sie, um bei den Wahlen im September ein Mandat anzustreben. Die demokratische Partei Jabloko setzte sie auf ihre Liste. Das erleichtert die Teilnahme an der Wahl, da sie so keine Unterschriften mehr sammeln muss, auch wenn die Partei der letzten Duma nicht mehr angehörte. Litwinowitsch tritt als Direktkandidatin im Norden Moskaus an. Die Kremlpartei „Einiges Russland“ stellt in dem Wahlkreis niemanden auf, sie unterstützt stattdessen die Kandidatin der Partei des „Gerechten Russland“. „Die Konkurrenz müsste zu schaffen sein“, meint Litwinowitsch zuversichtlich.

Sechzig freiwillige Helfer stehen ihr zur Seite. Die Hälfte arbeitet zu Hause, die andere hat sich an diesem Tag im Stabsquartier versammelt. Lebendig geht es im Nebenraum zu. Lachen und Stimmengewirr dringen herüber. Eine Mitstreiterin ist die Aktivistin und Jabloko-Mitglied Julia Galjamina. Auch sie wollte für die Duma kandidieren, wurde nach der dritten Festnahme auf einer Demonstration von der Wahl jedoch ausgeschlossen. Seit 2014 gilt der Ilja-Dadin-Artikel: Bei mehrfachen Verstößen gegen das Versammlungsrecht werden Kandidaten gesperrt.

In ihrem Wahlkreis, im Norden der russischen Hauptstadt, wuchs Marina Litwinowitsch auf, sie gehört zum Moskauer Urgestein. Großvater Georgij war Flugzeugkonstrukteur beim Iljuschin-Werk, die Großmutter Opernsängerin am Bolschoi-Theater und Dozentin am Konservatorium. Mit der Familie des Flugzeugbauers Iljuschin verband den Großvater eine lange Freundschaft. Enkelin Marina erhielt etwas in der Sowjetunion recht Seltenes: Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigene Kraft. Dazu ein unverrückbares Wertegerüst. Bis 1996 studierte sie Philosophie an der Moskauer Staatlichen Universität, daneben Politikwissenschaft und ein bisschen Jura. Danach arbeitete sie als Polit-Technologin, eine Tätigkeit, die in Russland einer Mischung aus Analytikerin und Propagandistin entspricht und in den letzten Jahren in Verruf geraten ist.

Damals machte sie sich auch einen Namen als Medienmanagerin und entwarf neue journalistische Websites wie lenta.ru, strana.ru und gazeta.ru. Ziehvater war Gleb Pawlowski, der als Chef des „Fonds für effektive Politik“ Anfang der 2000er Jahre unter Wladimir Putin große Erfolge feierte. Auch er ist Polittechnologe und ein Spindoktor, der die Kremlpolitik in den ersten Putin-Jahren mitbestimmte und das System der „gelenkten Demokratie“ ausbaute. Inzwischen ist auch Pawlowski Dissident.

Litwinowitsch rechnete mit Störversuchen bei der Wahlkampagne. Schon zu Beginn gab es Anzeichen. Davor habe sie aber keine Angst. „Entweder lande ich in der Duma oder im Gefängnis“, meint die Menschenrechtlerin gelassen. „Natürlich wird es Versuche geben, mich an der Wahl zu hindern.“

„Natürlich wird es Versuche geben, mich an der Wahl zu hindern“

Marina Litwinowitsch

Erst im März wurde sie aus dem Komitee gesellschaftlicher Beobachter (ONK) ausgeschlossen, das in Gefängnissen und Straflagern Inhaftierte freiwillig betreut. Um 3.000 Häftlinge hatte sie sich gekümmert und vielen Zugang zu medizinischer Versorgung und juristischer Unterstützung verschafft. „Jeden Tag habe ich Leute besucht. Es war wie der Gang zur Arbeit.“ Das gefiel ihr. Auch das Gefühl, gebraucht zu werden. Kaum jemand begegne den Gefangenen mit Verständnis, schon gar nicht freundlich, meint sie. „Plötzlich sollte damit Schluss sein“, sagt sie enttäuscht. „Ein Vorwand wurde gesucht.“ Angeblich soll sie gegen das Reglement in den Strafanstalten verstoßen haben, tatsächlich aber habe sie sich strikt an alle Vorgaben gehalten, beteuert sie. Auch Widerspruch brachte nichts. Das förderte die Entscheidung, für die Duma zu kandidieren. Denn auch Abgeordnete dürfen sich um Gefangene kümmern. „Die Arbeit will ich unbedingt wieder aufnehmen“, sagt sie entschlossen.

Auf nichts sei Litwinowitsch so stolz wie auf ihre Arbeit in einer unabhängigen Kommission zum Terroranschlag von Beslan 2004, sagt sie. Tschetschenische Terroristen nahmen eine Schule im nord­ossetischen Beslan als Geisel und verlangten den Abzug russischer Truppen aus Tschetschenien und die Freilassung von Gefangenen. Nach drei Tagen gingen russische Sicherheitskräfte gegen die Geiselnehmer vor. Mehr als dreihundert Kinder starben bei der Befreiungsaktion. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Russland 2017 wegen unverhältnismäßig harten Vorgehens und mangelhafter Ermittlungen zu hohen Geldstrafen.

Litwinowitsch gründete damals mit einigen Müttern aus Beslan die Website „Prawda Beslan“ – zu Deutsch: die Wahrheit Beslans. Mit einem Abgeordneten und Sprengstoffexperten aus Wladikawkas erstellte sie einen unabhängigen Untersuchungsbericht. Der wich deutlich von der offiziellen Version des Kreml ab. „Mein ältester Sohn war damals vier Jahre alt, wie einige von den Opfern. Mich ließ das nicht mehr los“, sagt sie. Noch heute hält sie Kontakt zu den Müttern. Drei Söhne hat sie inzwischen. Sie unterrichtet sie auch selbst. „Ich wollte damals Kinder, aber keinen Mann“, sagt sie. Daran hat sich bislang nichts geändert. Reichen die Kräfte noch, geht sie schwimmen. Leistungsschwimmen ist immer noch eine Leidenschaft.