Das große Bangen in Afghanistan

Es ist unklar, wie viele Menschen die Bundeswehr aus Kabul ausfliegen kann. Außenminister Heiko Maas räumt Fehleinschätzungen ein. Ohne US-Hilfe ist Deutschland vor Ort machtlos

Nur noch weg: Menschen versuchen am Montag auf den Kabuler Flughafen zu gelangen Foto: Stringer/reuters

Von Pascal Beucker

Die Rettungsaktion der Bundeswehr hat begonnen. Am Montag starteten drei Transportflugzeuge vom Typ A400M Richtung Afghanistan. Mit ihnen soll eine Luftbrücke zwischen dem Kabuler Flughafen und Taschkent, der Hauptstadt des Nachbarlands Usbekistan, aufgebaut werden. Von dort sollen dann zivile Chartermaschinen die Ausgeflogenen abholen und nach Deutschland bringen. Doch der Einsatz steht unter vielen Fragezeichen.

Angesichts der dramatischen Lage räumte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) eine krasse Fehleinschätzung ein: „Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch eingeschätzt“, sagte er am Montagnachmittag in Berlin. Es komme jetzt darauf an, „so viele Menschen wie möglich aus dieser Situation zu retten“.

Konkret bedeutet das, dass der Kreis derjenigen, die in Deutschland aufgenommen werden sollen, erweitert wird. Auch Mit­ar­bei­te­r:in­nen von Nichtregierungsorganisationen, der Entwicklungshilfe sowie Men­schen­rechts­ak­ti­vis­t:in­nen und Frau­en­recht­le­r:in­nen soll er nun umfassen, teilte Maas mit. Allerdings räumte er ein, dass noch unklar sei, wie diese Menschen unter den aktuellen Umständen zum Kabuler Flughafen gelangen könnten.

Wenig überraschend war die Lage am Hindukusch auch das bestimmende Thema in der Sitzung des CDU-Bundesvorstands am Montag. Nach Angaben aus Teil­neh­me­r:in­nen­krei­sen sprach Kanzlerin Angela Merkel (CDU) von „bitteren Stunden“. Die Entscheidung der USA zum Truppenabzug habe einen „Domino-Effekt“ bewirkt. „Für die vielen, die an Fortschritt und Freiheit gebaut haben – vor allem die Frauen –, sind das bittere Ereignisse.“

Merkel machte auch Angaben zur Dimension des jetzigen Rettungseinsatzes. Sie sprach von insgesamt rund 10.000 Menschen. „Wir evakuieren nun in Zusammenarbeit mit den USA die Menschen“, wurde die Kanzlerin zitiert. „Ohne die Hilfe der Amerikaner könnten wir so einen Einsatz nicht machen.“

„Die Bundes­regierung hat die Lage in Afghanistan bis zuletzt völlig falsch eingeschätzt“

Tobias Pflüger (Linke)

Der CDU-Vorsitzende und Unionskanzlerkandidat Armin Laschet sprach nach der Sitzung von dem „größten Debakel, das die Nato seit ihrer Gründung erleidet“. Es sei „eine politische und humanitäre Katastrophe“. Der Westen habe „jetzt vor Ort die moralische Verpflichtung, denjenigen zu helfen, die uns geholfen haben und sich für ein freies Afghanistan eingesetzt haben“, sagte Laschet.

Bislang beschränkte sich die Auswahl der zu Rettenden auf drei Gruppen. Erstens waren das die Botschaftsangehörigen. Bereits in der Nacht zu Montag wurden 40 Mit­ar­bei­te­r:in­nen der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug nach Doha im Golfemirat Katar ausgeflogen. Nun befindet sich nach Angaben des Auswärtigen Amts nur noch ein „kleines operatives Kernteam“ von einer Handvoll Menschen im militärischen Teil des Kabuler Flughafens.

Zweitens ging es um weitere deutsche Staatsangehörige, deren Anzahl auf eine hohe zweistellige Zahl taxiert wurde. Und dann kamen drittens jene, die nach einer engen Definition als Ortskräfte erfasst waren: Sie müssen in den vergangenen zwei Jahren direkt bei einer deutschen Stelle angestellt gewesen sein, zum Beispiel dem Auswärtigen Amt oder dem Entwicklungshilfeministerium. Wer für das Verteidigungs- oder das Innenministerium gearbeitet hat, für den gilt ein Zeitraum ab 2013. Wer für ein Subunternehmen oder eine Hilfsorganisation tätig war, fiel hingegen nicht darunter. Das galt auch für journalistische Hel­fe­r:in­nen deutscher Medien, die ebenfalls um ihr Leben bangen müssen.

„Unsere Priorität liegt zunächst bei den deutschen Staatsangehörigen vor Ort und bei den Ortskräften der Bundesregierung“, sagte Außenamtssprecher Christofer Burger am Montag in der Bundespressekonferenz. Sie seien aufgerufen worden, „sich an den sichersten Ort zu begeben, den sie finden können“, und darauf zu warten, dass sie kontaktiert werden. Dringend riet er davon ab, sich auf eigene Faust zum Kabuler Flughafen durchschlagen zu wollen, „weil das riskant sein kann“. Die Situation in und um den Flughafen sei derzeit „sehr, sehr unübersichtlich“.

Aber was machen die Betroffenen, wenn sie dann kontaktiert werden? Dann könnte ihnen wohl doch nichts anderes übrigbleiben, als alleine einen Weg zum Flughafen zu finden. „Ich kann ihnen nicht sagen, ob wir im Einzelfall Möglichkeiten haben, Hilfestellung zu leisten bei der Anfahrt“, sagte Ministeriumssprecher Burger.

Derzeit ist völlig unklar, wie viele Menschen überhaupt noch aus Afghanistan herausgebracht werden können. Denn die eingesetzten Bundeswehrmaschinen bieten nur Platz für jeweils 116 Passagiere. Wie viele Flüge werden sie machen können? Aber es sollen auch US-Maschinen genutzt werden können. „Solange es möglich ist, wird die Bundeswehr so viele Menschen wie möglich aus Afghanistan rausholen und die Luftbrücke aufrechterhalten“, wurde Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) aus der CDU-Vorstandssitzung zitiert. Dies hänge vor allem von der Unterstützung der US-Truppen ab, den Flughafen in Kabul offenzuhalten.

„Die Bundesregierung hat die Lage in Afghanistan bis zuletzt völlig falsch eingeschätzt“, kritisierte der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion, Tobias Pflüger. „Die Fehlannahme war, dass man nur militärisch ausbilden und ausrüsten muss und dann funktioniert das schon“, sagte er der taz. Die Nato und die Bundeswehr hätten „hier regelrechte Potemkin’sche Dörfer errichtet“. Bei dem „Knall auf Fall“-Abzug aus Afghanistan habe die Bundesregierung dann die Prioritäten allein darauf gelegt, die Bundeswehr und das militärische Gerät zurückzuholen. „Die Bundeswehr hat bei ihren Flügen raus aus Afghanistan zwar Restbier und Gedenksteine mitgenommen, aber kaum Ortskräfte“, sagte Pflüger. „Das ist und bleibt skandalös.“