Speerwerferin bei den Paralympics: Der Sport hält sie im Leben

Martina Willing ist blind, sitzt im Rollstuhl – und lässt sich nicht unterkriegen. Bei den Paralympics in Tokio hat die Speerwerferin Chancen auf Medaillen.

Eine Frau in einem Spezialrollstuhl wirft einen Speer

Bereit für Tokio: Speerwerferin Martina Willing beim Training Foto: Rainer Weisflog

Speerwerfen ist ein recht banaler Sport. Ein Stab aus Holz, Aluminium, Stahl oder Karbon und mit einer Metallspitze versehen, muss geradlinig in einen Korridor geworfen werden, der sich in einem Winkel von rund 29 Grad öffnet. Die Spitze des Speeres muss bei der Landung als Erstes den Boden berühren, sonst ist der Wurf ungültig. Sechs Versuche haben die Athlet:innen. Wer den Speer am weitesten wirft, gewinnt.

Nun wird ein Speer in der Regel von einem Menschen geworfen, was die Sache wiederum um einiges interessanter macht. Denn Menschen bewegen sich, anders als Speere, selten geradlinig durchs Leben. Womit man bei Martina Willing wäre, bei der aus dieser banalen Sportart Speerwurf von außen betrachtet eine Sensation wird.

Willing, 61 Jahre alt, aufgewachsen in Brandenburg an der Havel, würde das Wort Sensation in Zusammenhang mit ihrer Karriere selbst nie über die Lippen kommen. An einem Dienstag Mitte August fährt Willing um kurz nach 9 Uhr in ihrem Rollstuhl ins Leichtathletikstadion des Sportzentrums Cottbus. Sie trägt Sonnenbrille, schwarze Funktionskleidung, darüber ein rotes Leibchen ihres Vereins, des Brandenburgischen Präventions- und Rehabilitationssportvereins. Außer ihrem Trainer Peter Schreiber sind nur eine andere Speerwerferin und eine Handvoll Nach­wuchs­ath­le­t:in­nen in dem weiten Oval vor Ort.

Es ist eine der letzten Trainingseinheiten, bevor Willing in wenigen Tagen nach Tokio zu den Paralympischen Spielen fliegt, die am 24. August beginnen. Dort will sie ihre vierte paralympische Goldmedaille holen. Sie würde sich einreihen in eine Bilderbuchkarriere, die verziert ist mit insgesamt 14 paralympischen Medaillen, zahlreichen Welt- und Europameistertiteln und dem Silbernen Lorbeerblatt, der höchsten Sportauszeichnung Deutschlands.

Eine Weite zum Warmwerden

Im Cottbusser Leichtathletikstadion klettert Willing nach einem kurzen Aufwärmprogramm in ihren Wurfstuhl, ein 75 Zentimeter hoher, fest im Boden verankerter Metallsitz. Mit zwei Gurten schnallt sie ihre Beine fest, damit sie durch die Kraftwirkung des Wurfs nicht aus dem Stuhl geschleudert wird. Willing nimmt einen Speer in die rechte Hand, greift ihn zwischen Zeigefinger und Daumen, sodass der Textilgriff auf ihrem Handballen ruht. Dann lehnt sie sich nach hinten, Arm gestreckt, der Rücken im Hohlkreuz, und wirft den Speer in einer flüssigen Bewegung und mit einem langen Stöhnen über ihre Schulter hinweg auf den grünen Rasen vor ihr. „Schöner Zug“, ruft ihr Schreiber zu. Der Speer landet bei 17,5 Meter – genau wie die nächsten vier Speere. Eine Weite zum Warmwerden. Willing hält in ihrer Klasse mit 24,03 Meter immer noch den Weltrekord.

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Schreiber sammelt die Speere ein und bringt sie zurück zu Willing.

„Noch fünf Serien“, sagt er.

„Noch fünf?“, fragt Willing, die ein Muskelkater vom gestrigen Krafttraining plagt.

Schreiber: „Ja, da hast du aber schon eine für die Volkssolidarität dabei.“

Willing: „Ich dachte, für die mach ich das die ganze Zeit.“

Willing und Schreiber kennen sich noch aus DDR-Zeiten. Vor rund 40 Jahren sind sie sich zum ersten Mal begegnet, haben aber längere Zeit nicht mehr zusammengearbeitet. Dass Willing Schreiber für diese Spiele noch mal gebeten hat, sie zu trainieren, zeigt auch, wie sehr Willing diese vierte Goldmedaille gewinnen will.

Für manche war Schreiber früher etwas zu sehr auf Spitzenleistung versessen. 1996 wollte er als Verbandstrainer nur Ath­le­t:in­nen mitnehmen, die Chancen auf eine Spitzenplatzierung hatten, obwohl auch andere die Norm erreichten. Das Budget reiche nun mal nur für eine bestimmte Anzahl an Sportler:innen, argumentierte Schreiber damals. Später klagten einige Sport­le­r:in­nen für ein Startrecht bei erreichter Norm.

Tokio sind die achten Paralympics

Um Spitzenleistungen muss Schreiber sich bei Willing keine Gedanken machen. Erst im Juli wurde sie erneut Europameisterin im Speerwurf, ihr vierter EM-Titel in dieser Disziplin. Tokio werden ihre insgesamt achten Paralympischen Sommerspiele. Schon bei ihren ersten, 1992 in Barcelona, gewann sie Gold im Speerwurf. Damals mit einer Weite von 38,62 Metern.

Sie ist blind und manchmal nervt es sie, dass sie nicht weiß, wie weit die anderen geworfen haben

Dass Willing vor knapp 30 Jahren noch fast doppelt so weit werfen konnte wie heute, hat einen einfachen Grund: Sie hatte Anlauf. Willing startete damals in einer Klasse namens „F 11“, die wie folgt definiert ist: „Vollblinde: Keine Lichtempfindung in beiden Augen bis zur Lichtempfindung, aber unfähig, eine Handbewegung wahrzunehmen in irgendeiner Entfernung oder Richtung.“

Willing kommt mit zwei gesunden Beinen und einer Sehnervstörung zur Welt, ihre Sehfähigkeit nimmt ab, je älter sie wird. Noch bevor sie vollständig erblindet, erlernt sie die Blindenschrift. Sie will vorbereitet sein auf das, was unausweichlich kommt. Im Sport findet sie früh ein Ventil für die Entbehrungen, die sich in Teenagerjahren abzeichnen. „Ich war eine Bewegungsfanatikerin“, sagt sie. „Heute würde man wahrscheinlich sagen: ADHS.“

Zu den verschiedenen Disziplinen, die sie später als Leistungssport betreibt, sei sie immer wie die „Jungfrau zum Kind“ gekommen. Zunächst entdeckt sie ein Verbandstrainer in der Schwimmhalle. Sie wird Leistungsschwimmerin. Mitte der 80er-Jahre fehlen bei einem Mehrdisziplinen-Wettkampf den Leicht­ath­le­t:in­nen noch Star­te­r:in­nen für die Wurfdisziplinen. Willing springt ein. Kurz nachdem man ihr erklärt hatte, wo beim Speer vorne und hinten ist, gewinnt sie den Wettkampf und steigt später ganz auf die Wurfdisziplinen Speer, Diskus und Kugelstoßen um. Sie dominiert die Konkurrenz. Die 38,62 Meter von Barcelona 1992 bedeuten Weltrekord.

Doch der Bewegungsfanatikerin Willing reicht auch das nicht: Um im Winter fit zu bleiben, fährt sie mit Bekannten regelmäßig zum Skifahren. In einem Winter, Anfang der 90er-Jahre, trainieren am selben Ort zufällig auch die Para-Ski­fah­rer:in­nen. Sie werden auf Willing aufmerksam. Wenig später tritt sie bei den Winter-Paralympics 1994 in Lillehammer an. Natürlich ist Willing auch dort erfolgreich, gewinnt Bronze und Silber.

Der Unfall

Doch dann, in ihrem letzten Langlaufwettkampf in Lillehammer – Willing hat gute Chancen auf Gold –, kommt es zu einer folgenschweren Kollision. Ihrer Begleiterin reißt die Schlaufe des Stocks. „Wir hatten abgemacht, dass, sollte etwas passieren, ich einfach weiterfahre, ohne Gas zu geben“, sagt Willing. „Auf der Ebene wäre es ja gegangen, aber da war ich schon in der Abfahrt drin.“ Ohne Begleiterin und mit hohem Tempo prallt Willing auf die vor ihr platzierte Läuferin und ist infolge des Unfalls querschnittsgelähmt. Fast ein Jahr muss sie im Krankenhaus verbringen, bevor sie am Tag vor Heiligabend 1994 entlassen wird.

Der naheliegende Gedanke, dass dieser Unfall das Ende ihrer Sportkarriere bedeutet, sei Willing damals nie gekommen, erzählt sie heute. „Ich habe gedacht: Gut, jetzt ist die Kacke passiert. Aber ganz ohne Sport wird es im Leben eh nicht bei dir funktionieren. Irgendwas wirst du wieder machen.“ Eine psychologische Betreuung lehnt sie ab. „Ich habe schon immer viel mit mir selbst ausgemacht“, sagt sie. „Drei, vier Jahre habe ich gebraucht, um wieder Grund in mir zu bekommen.“

Dennoch hadert Willing weniger mit dem Schicksal, sondern vor allem mit den praktischen Dingen: dem Rollstuhlfahren, der Verdauung, der hart erarbeiteten und nun zunächst wieder verlorenen Selbstständigkeit. Abermals ist es der Sport, der ihr dabei hilft, im Leben zu bleiben.

Da ihre Beine gelähmt sind, macht Willing das, was sie früher mit Anlauf schon besser konnte als andere, von jetzt an im Sitzen. Die Umstellung gelingt ihr gut – wie gut, kann man auf der offiziellen Seite des Internationalen Paralympischen Komitees nachlesen: Unter Atlanta 1996, Speerwurf der Frauen in der Klasse F53-54 steht: Goldmedaille mit einer Weite von 22,1 Metern, Martina Willing.

Ein unwirkliches Comeback

Anderthalb Jahre nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, dominierte sie schon wieder die Konkurrenz. So wie sie es die meiste Zeit ihrer Karriere getan hat. Ein unwirkliches Comeback, zu dem Willing heute Folgendes einfällt: „Ich war dort noch viel auf Hilfe angewiesen. Das hat mich schon ganz schön angestunken. Du bist da bei den Paralympics, präsentierst dich als Leistungssportlerin und kriegst nicht mal einfache Sachen alleine auf die Reihe.“

Dass Willing blind ist, dafür bekam und bekommt sie in ihrer jetzigen Klasse keine Kompensation. Sie will sie auch gar nicht. Nur manchmal nervt es sie, dass sie nicht weiß, wie weit die anderen geworfen haben.

Mit ihrer letzten Wurftrainingseinheit in Deutschland ist Willing an diesem Dienstag, Mitte August, zufrieden. Der beste Versuch kratzte an der 20-Meter-Marke. Für die aktuelle Trainingsbelastung sei das gut. Wie ihre Chancen in Tokio stehen, wagt sie trotzdem nicht einzuschätzen. „Anderthalb Jahre hat es kaum internationale Wettkämpfe gegeben“, sagt sie. „Das Leistungsniveau der anderen wird sich erst im Wettkampf zeigen.“ Ihr Trainer Peter Schreiber hat eine recht konkrete Vorstellung von der Leistung seiner Athletin. 22,38 Meter erwarte er von ihr, sagt er halb im Spaß, halb im Ernst.

Am 31. August, dem Tag ihres Wettkampfes, wird er wissen, ob sich seine Vorgabe erfüllt. Ans Aufhören denkt die Athletin Willing noch nicht. Sollte sie nicht völlig chancenlos sein in Tokio, klinge Paris 2024 nach einem schönen Ziel. Sie wäre dann 64 Jahre alt. Es wären ihre neunten Paralympischen Spiele.

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