Alle für die Mitbestimmung

Bei einer Diskussion sprechen sich alle Bremer Spit­zen­kan­di­da­t*in­nen für Bürgerräte aus. Die große gemeinsame Hoffnung: ein Ausweg aus Spaltung und Politikverdrossenheit

Ein Ziel von Bürgerräten: dem Parlament spiegeln, was die Gesellschaft denkt Foto: Britta Pedersen/dpa

Von Lotta Drügemöller

Zwei Briefe hatte er an jenem Tag im Jahr 2019 im Postkasten, erinnert sich Martin Cordes: einen von der Faber-Loslotterie, einen vom Bürgerrat. Das größere Los war der zweite: Der Bremer war ausgelost worden, am ersten Bürgerrat Deutschlands teilzunehmen, zur Zukunft der Demokratie.

Beim Bürgerrat treffen sich zufällig ausgewählte Bür­ge­r*in­nen, um über ein zuvor bestimmtes Thema zu diskutieren. Wenn es nach den Bremer Abgeordneten geht, scheint klar: Der nächste Bundestag wird Bürgerräte einführen. Linke und Grüne, SPD und FDP und auch der CDU-Abgeordnete haben sich bei der Onlinediskussion vom Verein „Mehr Demokratie“ am Donnerstagabend für das Instrument ausgesprochen.

So viel Einigkeit kann fast misstrauisch machen, liegt aber ganz auf der Linie der Bürgerräte. In Achtergruppen wird dort eine Frage diskutiert, werden Argumente ausgetauscht, wird versucht, einen Konsens zu erreichen. Dann werden die Gruppen neu gemischt – und am Ende stehen Beschlüsse, hinter denen möglichst viele der 160 Teil­neh­me­r*in­nen stehen.

„Das Verständnis für Politiker wächst“, berichtet Cordes. „Man merkt, wie komplex Entscheidungen sind, wie viele Interessen man berücksichtigen muss.“ Dieser Aspekt besticht auch Sarah Ryglewski, Bremer Bundestagsabgeordnete der SPD: Es gehe bei Demokratie „nicht darum, dass sich die Mehrheit durchsetzt, sondern darum, das Gemeinwohl zu steigern“.

Alle Kan­di­da­t*in­nen empfinden die Gesellschaft als zunehmend polarisiert. „Auf Social Media gibt es oft nur noch binäre Entscheidungen: Bist du nicht bei mir, bist du mein Feind“, meint FDP-Kandidat Volker Redder. Bürgerräte scheinen ein Ausweg.

Teilnehmer Cordes betont einen weiteren Effekt: „Ich habe mich früher politisch engagiert, das dann aber aufgegeben“, erzählt er. Die Erfahrung, gefragt zu werden, habe ihn – wie viele andere auch – wieder aktiviert.

Ein weiterer Vorteil des Bürgerrats gegenüber dem Parlament soll in seiner Repräsentanz liegen: Mehr Frauen, mehr Menschen mit Migrationshintergrund, alle Bildungsschichten sollen vertreten sein. Das klappt zum Teil: Der Anteil der Menschen mit Hauptschulabschluss liegt im Bundestag bei nur 1 Prozent. Bei den drei bisherigen Bürgerräten hat sich ihr Anteil von 7 auf immerhin 18 Prozent gesteigert. Repräsentativ ist das noch nicht: Dafür müssten es 29 Prozent sein.

Als einzige der fünf Parteien hat die CDU Bürgerräte nicht im Wahlprogramm verankert. Allein in der Union ist Thomas Röwekamp als Befürworter aber nicht. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte sich im Januar öffentlich für das Instrument ausgesprochen.

Das Konzept der Bürgerräte stammt aus Irland. Vor Volksabstimmungen sollen sie der Politik die Stimmung der Gesellschaft nahebringen – und zugleich der Öffentlichkeit die Möglichkeit geben, Themen breit zu diskutieren.

Der erste deutsche Bürgerrat wurde vom Verein „Mehr Demokratie“ initiiert; behandelt wurde im September 2019 mit 160 Teilnehmer*innen die Frage, wie Demokratie funktionieren soll.

„Deutschlands Rolle in der Welt“ war das Thema des zweiten Bürgerrats Anfang 2021. Der Auftrag kam aus dem Bundestag – Ziel war, das Konzept auf seine Praxistauglichkeit zu testen.

Das Prinzip hat sich emanzipiert: Ein dritter Bürgerrat kam auf Betreiben von Bürger*innen selbst zustande. Im Juni hat er seine Empfehlungen zum Klimaschutz abgegeben.

Interessanterweise ist der politische Konsens größer als der in der Bevölkerung: Dort sieht laut einer Umfrage von „Mehr Demokratie“ zwar eine absolute Mehrheit von 53,9 Prozent Bürgerentscheide eher positiv, immerhin 32,5 Prozent sind aber eher dagegen. In Bremen ist man sogar noch ein Stück kritischer: Nur 49,2 Prozent finden die Räte gut, 36,6 Prozent nicht.

Die Kan­di­da­t*in­nen erklären sich das damit, das es in Bremen bereits recht große Mitwirkungsmöglichkeiten gebe: „Wir dürfen nicht vergessen, wie sehr in Bremen die Bür­ge­r*in­nen ihre Expertise schon in die Beiräte einbringen“, sagt Doris Achelwilm von der Linkspartei.

Doch was sollen die Bürgerräte praktisch bringen, abseits von dem Gefühl, dass 160 Menschen mal miteinander gesprochen haben? SPD, Linke und Grüne betonen, dass „die Vorschläge nicht in Schubläden verschwinden“ dürften, CDU und FDP heben den „beratenden Charakter“ der Gremien hervor. Richtig konkret wird niemand.

Eine weitere gesetzgebende Instanz soll der Bürgerrat nicht sein. Ex-Teilnehmer Cordes erwartet das auch nicht: „Ich habe nur Wünsche“, sagt er – und berichtet, wie sehr es ihn gefreut habe, dass das Lobby-Register, eine Einigung des ersten Bürgerrats, nur wenige Monate später groß in der Diskussion auftauchte. „Man ist einfach dankbar, dass man gehört wird.“