Stepan Latypow, Baumpfleger

Der 41-Jährige sitzt seit dem 15. September in Haft. Anfang Juni rammt er sich vor Gericht aus Verzweiflung eine Kugelschreiber in den Hals

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Es ist der 1. Juni 2021, Verhandlungssaal eines Gerichts in Minsk. Plötzlich geht alles ganz schnell. Der in einem Glaskasten sitzende Angeklagte Stepan Latypow steigt auf eine Bank und rammt sich einen Kugelschreiber in den Hals. Blutend bricht er zusammen, verliert das Bewusstsein und wird abtransportiert. Kurz zuvor hatte sein Vater als Zeuge vor Gericht ausgesagt. Und der Sohn hatte ihm zugerufen: „Vater! Kurz vor unserem Wiedersehen sind Leute vom Dezernat zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität zu mir gekommen und haben mich bedroht. Wenn ich nicht gestehe, wird es auch Strafverfahren gegen meine Freunde und Verwandten geben. Und ich muss wieder in die Folterkammer. Da war ich bereits 51 Tage. Nur, dass du vorbereitet bist.“

Der 41-Jährige wird der Organisation von Massenaufruhr und des Widerstands gegen die Staatsgewalt beschuldigt. Seit vergangenem September sitzt er in Untersuchungshaft.

Latypow, der aus einer Familie von Biologen stammt, ist von Beruf Baumpfleger. Während seines Studiums der Forstwirtschaft reist er mehrfach nach Großbritannien, wo er eine Zusatzqualifikation als Industriekletterer erwirbt. 2009 gründet er seine Firma „BelArbo“, deren Mitarbeiter landesweit im Einsatz sind. Latypows Expertise, vor allem im Kampf gegen den giftigen Bärenklau, ist gefragt. Auch im Garten der Residenz des belarussischen Präsidenten hat er in luftiger Höhe schon Hand angelegt.

Am 16. August 2020 postet er auf seinem Instagram-Account folgende Sätze: „Man kann alles Mögliche verzeihen, aber nicht, dass Menschen gefoltert, vergewaltigt und getötet werden, weil sie sich geweigert haben, Alexander Lukaschenko zu wählen. Einen solchen Präsidenten brauchen wir nicht.“

Rund einen Monat später, am 15. September, wird Latypow festgenommen. Seine Vergehen: Er hat sich schützend vor ein Graffiti mit den Konterfeis zwei DJs gestellt, die den bekannten sowjetischen Protestsong „Veränderungen“ von Wiktor Zois gespielt haben. Und er hat die Sicherheitskräfte aufgefordert, sich auszuweisen. Wenige Tage später verbreitet das belarussische Staatsfernsehen, Latypow habe Angehörige der Miliz vergiften wollen.

Nach einer Operation sitzt Latypow inzwischen wieder in Untersuchungshaft. Am 10. Juni ordnet ein Gericht an, ihn „psychiatrisch begutachten“ zu lassen. Im Falle einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Barbara Oertel