Freistoß mit Findling

Die Fußball-Europameisterschaft in 11 Großstädten, unter anderen in Baku, trägt das Attribut „paneuropäisch“.
Doch was einst als verbindende Idee konzipiert wurde, kommt nach Corona merkwürdig unzeitgemäß daher

Volle Ball­kontrolle! Englands Fußballegende Bobby Moore, das heißt sein steinernes Abbild, erwartet vor dem Londoner Wembley-Stadion EM-Fans Foto: AP/Frank Augstein

Von Markus Völker

In den vergangenen Monaten wurde dann auch viel nachgedacht über das Regionale und Kleine, über eine Detox-Bewegung und Umbrüche, die nun unabdingbar seien. Die virulenten Themen sind unter anderem: Selbstbeschränkung, Verzicht und vorausschauende Verantwortungsübernahme. Corona ist hierbei der Transmissionsriemen für allerhand Gedankenspiele in den sogenannten progressiven Kreisen. Wie passt nun die Fußball-Europameisterschaft in diesen Diskurs über Veränderung hinein? Im Grunde gar nicht. Die Euro liegt wie ein Findling in der diskursiven Landschaft herum. Sie ist nicht nur schwer zu handhaben, sie verweist auch auf eine Vergangenheit, die irgendwie fern scheint. Was also anfangen mit diesem Klotz, äh, Event? Einfach plump hedonistisch genießen, das Ding, nach einer Zeit der Entbehrung oder doch einordnen in das Big Picture, das gerade in der Szene der urbanen Elite mit schwungvollen Strichen gezeichnet wird?

Diese Europameisterschaft trug immer das Label paneuropäisch, und vor ein paar Jahren konnte man damit noch gut Werbung in eigener Sache machen: Wir halten den europäischen Gedanken hoch! Wir verbinden einen Kontinent! Wir eröffnen Chancen auch für kleine Nationen! Marketingprofis mussten nicht lange nachdenken, um eine paneuropäische Europameisterschaft 60 Jahre nach der Premiere des Wettbewerbs als ziemlich gute Idee zu verkaufen. Wer hat schon etwas gegen ein Europa, in dem der Ball rollt? Eben. Aber schon damals, als die Idee vom europäischen Fußballverband Uefa und speziell von seinem Präsidenten Michel Platini ersonnen wurde, ging es nicht vordergründig um das Wohl des Fußballs und seiner Fans. Man wollte wachsen, größer werden, schlechterdings mehr Geld verdienen und expansiv neue, auch kleinere Märkte erobern – der gute, alte Kapitalismus also, der eh wie Weidelgras im Stadion grünt.

Der Fußball ist nun einmal eine Branche, die Grenzen sprengt, jedes Jahr aufs Neue: Die Fernsehverträge werden voluminöser, die Ablösesummen schießen in die Höhe, und die Teilnehmerfelder von Fußballevents wachsen wie Bambus im Frühjahr – selbst nach dieser Coronasache, die dem Projekt Europa durch Reisebeschränkungen, geschlossene Grenzen und ein vergurktes EU-Impfhandling eher geschadet hat; jedenfalls ist plötzlich das Nationalstaatliche mehr in den Fokus gerückt – was im Übrigen ein Kernstück solcher Sportgroßveranstaltungen ist.

Vor fünf Jahren, 2016, wurde das Feld der Europameisterschaft von 16 auf 24 Mannschaften aufgebläht. Das fanden viele von den großen Fußballverbänden in Europa überflüssig, Fifa-Chef Gianni Infantino aber gab die Richtung vor: „Es gibt kein Limit für Dinge, die gut für den Fußball sind“, sagte der frühere Uefa-Generalsekretär und schwärmte geradezu von der Ausweitung der Euro auf 24 Mannschaften. Die Entscheidung habe in vielen Ländern Enthusiasmus ausgelöst. „Wir müssen realisieren, dass solche Events mehr als Wettbewerbe sind. Sie sind soziale Veranstaltungen in der ganzen Welt.“ Dieser Art der fußballerischen Philanthropie war noch nie zu trauen. Sie dient in den meisten Fällen dazu, echte Interessen zu maskieren.

„Es ist nur eine Idee, aber mir gefällt dieser Gedanke“, hatte Platini 2012 gesagt, als er seinen Vorschlag für das paneuropäische Turnier machte. „Wir bringen die EM vor die Haustüren. Normalerweise müssen die Fans lange reisen, um eine EM zu sehen, jetzt bringen wir ihnen die EM vor die Haustür, und das in fast ganz Europa“, argumentierte der schon vor Jahren über Skandale gestürzte Funktionär aus Frankreich. Was Michel Platini nicht sagte: Die als politische Einigungsinitiative verkaufte Multi-Gastgeber-EM war eine sportpolitische Notlösung. Als ernsthafte Kandidaten hatten sich nur Irland, Schottland und Wales sowie Aserbaidschan und Georgien angeboten. Die Türkei wollte auch irgendwie.

Das waren aber offensichtlich keine seriösen Alternativen für ein 24-Teilnehmer-Turnier. Und dass es sich in der Platini’schen Uefa-Rhetorik um eine Europameisterschaft der kurzen Wege handeln sollte, ist sowieso Unsinn, denn Mannschaften und Fans jetten jetzt ja wie wild auf dem Kontinent herum, blasen Tonnen von Kohlendioxid in die Luft, und nur die noch immer geltenden Coronabeschränkungen verhindern, dass dieses Turnier mit der schlechtesten Umwelt- und Klimabilanz in die Geschichte des Ballsports eingeht. Die aktuelle Frage „Wie können wir groß im Kleinen sein oder klein im Großen?“ beantwortet die Euro quasi brachial: „Wir sind groß im Großen?“

Das hat wohl auch der aktuelle Präsident der Uefa, der Slowene Aleksander Čeferin, irgendwann begriffen. Er sagte: „Ich würde es (so eine Vergabe; d. Red.) nicht wieder tun. Es schafft Probleme für uns. Nach der EM 2020, die 13 Länder gemeinsam austragen, ist es notwendig, die nächste EM in einem Land zu haben.“ Der Slowene verwies auf unterschiedliche Gesetzgebungen in den Ausrichterländern, zudem habe auch nicht jedes Land den Euro als Währung. „Schöner Gedanke, Europa symbolisch zu vereinen. Aber es ist kein Modell für die Zukunft“, dekretierte Čeferin und machte damit übrigens den Weg frei für die Deutschen, die 2024 die EM ausrichten dürfen. Damit das klappt, vermieden die bei der Vergabe im „Sinne der Einvernehmlichkeit“ eine Kampfabstimmung um die 2020er-Finals mit London – so funktionieren Deals auf der Ebene der Sportpolitik.

„Schöner Gedanke, Europa symbolisch zu vereinen. Aber es ist kein Modell für die Zukunft“

Aleksander Čeferin, Uefa-Präsident

Wenn Čeferin von 13 Orten gesprochen hat, dann ist das mittlerweile überholt. In 11 Städten wird es vom 11. Juni bis zum 11. Juli 51 EM-Spiele geben. Beworben hatten sich anfangs sogar 19 Städte, und die Uefa wird drei Kreuze machen, dass Minsk nicht in die engere Wahl kam. Los geht es am Freitag in Rom mit dem Spiel der Italiener gegen die Türken. Zugelassen sind 16.000 Zuschauer, sie stehen symbolisch für eine Rückkehr zu einer noch immer fragilen Normalität. Und so verwundert es auch nicht, dass viele Fußballfans noch fremdeln mit diesem Turnier, dessen Nektar sie sonst begierig aufsaugen. Auszumachen ist eine gewisse Zurückhaltung. Die Unersättlichkeit, ja Gier, mit der sich viele Fans auf vergangene Turniere gestürzt haben, die scheint diesmal zu fehlen. Noch.

Selbst der Enthusiasmus der Kleinen, die früher mit Feuereifer Panini-Bildchen sammelten, ist ein wenig erloschen. Die Fußballfreunde in Europa, deren Prioritäten in den vergangenen Monaten wohl leicht verrutscht sind, müssen sich erst wieder infizieren – mit dem Fußballvirus aus einem Labor in Nyon (dem Sitz der Uefa). Das wird irgendwann passieren, so viel ist sicher. Asymptomatisch dürften die wenigsten bleiben.

Der R-Wert wird wohl schon nächste Woche über 2 steigen. Auch die Symptome sind bekannt: spitze Schreie, Lallen, Skandieren – und neunmalklug über Trainer und Taktik daherreden. So eine Pandemie ist immerhin auszuhalten.