: Bunter als alles, was vorher war

Denkt man an Eric Carle, der jetzt im Alter von 91 Jahren verstorben ist, dann denkt man sofort an die kleine Raupe Nimmersatt, die Heldin seines bekanntesten Buchs, die nicht lange klein bleibt, weil sie sich ausgiebig dem widmet, ohne das es im Leben nicht geht: Sie isst und isst und isst und wird sehr dick.
Dass es Carle nicht gestört hat, stets mit der verfressenen Raupe assoziiert zu werden, kann man in einem Video erleben, in dem er zu ihrem 40. Geburtstag das Buch vorliest: „Nachts, im Mondschein, lag auf einem Blatt ein kleines Ei …“, so fängt es an. Man hört den schwäbischen Akzent Carles, der zwar in Syracuse, New York, geboren worden war, der aber in Stuttgart aufwuchs. Seine Eltern waren, wie es heißt, „aus Heimweh“ in das Land zurückgekehrt, aus dem sie einst ausgewandert waren. Man sieht, wie er lächelnd liest, ihm gefällt das Buch, er mag die Raupe.
Es ist ja auch ein wunderbares kleines großes Stück Weltliteratur. Die farbigen Grafiken, die grüne Raupe mit dem roten Kopf, die, „als an einem schönen Sonntagmorgen die Sonne aufging, hell und warm“ aus dem Ei schlüpft. „Knack“ macht es, dann zieht sie los, frisst Löcher durch alles, was sie kriegen kann – Apfel, Birnen, Pflaumen, Schokoladenkuchen, Eiswaffel, Gurke, Käse, Wurst. So einfach, so gut, dass Carle wirklich runde Fresslöcher in all das geschnitten hat. So wird das Leben der Raupe, die bald dick und rund eine ganze Seite ausfüllt, sehr greifbar.
Jetzt ist Carle tot. Er hat die Farbigkeit seiner Bücher mal damit erklärt, die Düsternis seiner Jugend im Deutschland der Nazis und im Krieg überwinden zu wollen. Dort habe es keine Farben gegeben. Einmal nur wird es in „Die kleine Raupe Nimmersatt“ düster. Das ist, als sie sich vollgefressen hat, „groß und dick“. Sie baut sich „ein enges Haus, das man Kokon nennt“, in dieser dunklen Höhle bleibt sie zwei Wochen, knabbert ein Loch hinein, zwängt sich nach draußen und lebt fortan als wunderschöner Schmetterling – bunter als alles, was vorher war.
Das Leben geht weiter als etwas Neues.
Felix Zimmermann
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