„Wir sind Teil eines größeren kulturellen Ganzen“

Am 9. Juni startet Teil zwei der Berlinale, diesmal mit Publikum. Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek sagen, was ihn wichtig macht, obwohl die Sieger schon feststehen

Foto: Alexander Janetzko/Berlinale

Interview Tim Caspar Boehme

taz am wochenende: Frau Rissenbeek, Herr Chatrian, nächste Woche beginnt das Berlinale „Summer Special“. Die Vergabe der Bären war schon im März. Wie sehen Sie diesem Publikumsteil des Festivals ohne Überraschungsmoment entgegen?

Mariette Rissenbeek: Ich bin begeistert, dass wir ­endlich wieder Kino auf der Leinwand anbieten und Publikum empfangen können. Der Gewinner des Publikumspreises kommt als Überraschung am letzten Tag. Die Leute gehen elf Tage zur Berlinale und schauen nicht nur Wettbewerbsfilme, sondern quer durch die Sektio­nen. Sie wollen sich anregen lassen, interessieren sich für bestimmte Themen, Fil­me­ma­che­r*in­nen oder bestimmte Schauspieler*innen. Es geht ja nicht nur um die Bären-Preise.

Carlo Chatrian: Die Frage ist: Was ist ein Festival? Ein Festival ist das Ergebnis eines Reflexionsprozesses, die Auswahl eines Ensembles von Filmen. Einige haben einen Preis erhalten, andere nicht, für einige gab es gute Kritiken, für andere nicht. Ein Festival ist aber auch das, was diese Filmauswahl umgibt. Nicht allein das professionelle Feedback, sondern auch die Zusammenkunft, die Verbindungen zwischen den Filmen als Objekten und dem Publikum, den Leuten, die diese Filme sehen. Je nachdem, welchen Teil man bevorzugt, hat sich das Festival daher entweder schon ereignet oder muss sich erst noch ereignen. Für mich gilt Letzteres. Ich freue mich darauf, Filme vorzustellen und zu sehen, wie das Publikum reagiert, mit was für Gefühlen oder Gedanken.

Die Kinos öffnen langsam wieder. Wie groß ist Ihre Enttäuschung, sich auf Open-Air-Vorführungen beschränken zu müssen?

Rissenbeek: Es ist zwar so, dass die Kinos ab nächster Woche öffnen dürfen, aber ich bin ständig im Gespräch mit Kinobetreibern, und alle sagen, sie werden ihre Kinos vor dem 1. Juli nicht aufmachen, weil sie den Kinobetrieb nicht von heute auf morgen wieder starten können. Sie müssen die Leute aus der Kurzarbeit holen, und sie brauchen einen bundesweiten Verleihstart von Filmen, um funktionieren zu können. Das andere ist: Die Berlinale ist eine große Veranstaltung, wir haben über 100 Filme, wir können nicht innerhalb einer Woche ein Festival programmieren. Es hätte keinen Sinn gehabt, auf Risiko zu gehen und zu denken, dass die Kinos schon werden öffnen dürfen.

Chatrian: Ich glaube, die Freiluftkino-Option ist auch als Symbol die beste Option. In Berlin gab es einen langen Lockdown, und jetzt ein Dach über dem Kopf zu haben, würde stark an diese Erfahrung erinnern. Die Möglichkeit, Filme unter den Sternen zeigen zu können, weckt ein völlig anderes Gefühl. Wir haben zudem ein Freiluftkino auf der Museumsinsel eingerichtet, das mit seiner Lage im Stadtzentrum inmitten der Museen ebenfalls von symbolischer Bedeutung ist. Wir geben damit zu verstehen, dass wir Teil eines größeren kulturellen Ganzen sind, das stark in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Carlo

Chatrian

ist künstlerischer Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin. 2003 begann er, für das Filmfestival in Locarno zu arbeiten. Von 2013 bis 2018 war Chatrian künstlerischer Leiter des internationalen Filmfestivals von Locarno.

Im vorigen Jahr hatten Sie die Möglichkeit einer in Teilen digitalen Berlinale noch ausgeschlossen. Was hat Sie bewogen, im März neben der Filmbranche auch der Presse ein Online-Festival zu präsentieren und auch schon die Preise zu vergeben?

Chatrian: Wir hatten viele Bitten aus der Filmbranche erhalten, den European Film Market nicht abzusagen. Und ein Markt ohne Festival mit Sektio­nen hätte keinen Sinn gehabt. Da es einen Wettbewerb gab, war es praktisch unvermeidlich, diesen von der Jury auszeichnen zu lassen. Wir haben das Online-Angebot dann auf die Leute beschränkt, die von Berufs wegen daran gewöhnt sind, Filme online zu sehen. Dem Publikum wollten wir die Filme aber nicht online zeigen, weil wir glauben, dass die gemeinsame Erfahrung genauso wichtig ist wie das Auswählen der Filme.

Die Entscheidung, das Festival zu teilen, wurde auch kritisiert. Droht dem Publikumsteil ein Bedeutungsverlust?

Chatrian: Die Entscheidung, das Festival zu teilen, war Resultat des Lockdowns. Uns ist bewusst, dass es für das Publikum nicht optimal ist, drei Monate zu warten, bis sie die Filme sehen können, die schon besprochen wurden. Andererseits haben wir den Ticketverkauf am Donnerstag gestartet, und die Reaktionen waren überaus positiv. Die Leute wollen die Filme sehen, und sie sind froh, sie gemeinsam anzusehen statt allein am Laptop.

Eine weitere Besonderheit ist das deutlich kleinere Programm: eine reine Notlösung oder möglicher Präzedenzfall?

Mariette

Rissenbeek

ist Geschäftsführerin der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Zuletzt war sie von 2011 an Geschäftsführerin von German Films, der deutschen Einrichtung für die internationale Förderung des deutschen Kinos.

Rissenbeek: Wir mussten die Anzahl der Filme reduzieren, weil wir ursprünglich wollten, dass möglichst viele Leute ein Ticket für den jeweiligen Film kaufen können. Wir mussten schon im Dezember mit Platzbeschränkungen rechnen. Im April mussten wir uns noch einmal vom Kino innen aufs Kino außen umstellen, was eine weitere Beschränkung bedeutete, denn im Freiluftkino können wir nur einen Film am Abend spielen. Für nächstes Jahr wollen wir das nicht. Normalerweise verkauft die Berlinale 330.000 Tickets, mit 100 Filmen geht das aber nicht.

In diesem Jahr bilden einige Filme wie der Gewinner des Goldenen Bären von Radu Jude die Pandemie ab. Erwarten Sie nächstes Jahr mehr Filme dieser Art?

Chatrian: Die Filme wurden vor der Pandemie entwickelt, in einigen findet sich aber ein Widerhall der Pandemie: Leute tragen Masken, sie sind allein und so weiter. Die Filme, die direkt von der Pandemie inspiriert waren, erschienen mir hingegen zu flach. Ich bin mir jedoch sicher, dass viele Filme sich in Zukunft direkt oder indirekt mit dem befassen werden, was geschehen ist. Es war ein Ereignis von großer Tragweite. Drei Monate lang war die Welt wie abgeriegelt. Zwölf Monate danach erscheint die Welt gespaltener als je zuvor. Ich bin daher neugierig, wie Filmemacher und Künstler das in Kunstformen übertragen werden.