Feminismus beim Theatertreffen: Wie die Löcher im Käse

Die Performance „Name her“ von Marie Schleef ist wie feministischer Frontalunterricht. Dem Theatertreffen tut der Bruch mit dem Künstlerheroentum gut.

Eine Tänzerin springt vor drei riesigen Smartphonebildschirmen in die Luft.

In „Name her“ stellt Anne Tismer auch Helen Matthew Graham vor, Fußballspielerin und Sufragette Foto: Hendrik Lietmann

Eine amerikanische Mutter wollte gern, dass ihre Tochter berühmt wird. Also überlegte sie schon vor der Geburt, wie sie ihr einen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde sichern könnte. Sie verfiel auf den Trick eines besonders langen Vornamens, der alle Verwandten einschloss und für den die Geburtsurkunde massiv erweitert werden musste. Später verbot der Staat Texas zwar solche langen Namen, da hatten Mutter und Tochter es aber schon in verschiedene Talkshows geschafft.

Ein kleiner Ausschnitt ihres Auftritts bei Oprah Winfrey ist in der Performance „Name her. Eine Suche nach den Frauen“ von Marie Schleef zu finden, die damit zum Theatertreffen eingeladen war. Sonntagabend wurde die sechsstündige Performance im Rahmen des Festivals gestreamt, das am Pfingstmontag mit „Scores that shaped our friendship“ von Lucy Wilke zu Ende ging.

Marie Schleef ist eine junge Regisseurin, die schon in ihrer Diplomarbeit gefragt hat, warum es keinen weiblichen Kanon im deutschsprachigen Thea­ter gibt. Ihr Stück „Name her“ hatte im September 2019 Premiere im Ballhaus Ost in Berlin, einer Produktionsstätte für die freie Szene, koproduziert von den Kammerspielen München und dem Kosmos Theater Wien.

Dass es die dort mit geringen Mitteln ausgestatteten Projekte zu einer Einladung zum Thea­ter­tref­fen, der Auswahl von zehn Inszenierungen, schaffen, ist selten. In diesem Jahr einerseits sicher dem Umstand geschuldet, dass wegen der langen pandemiebedingten Schließungen der Theater eben überhaupt weniger Premieren rauskamen und so kleinere Theater größere Chancen hatten. Andererseits passt die Wahl von „Name her“ kulturpolitisch gut in das Konzept des Theatertreffens, Regisseurinnen und Autorinnen zu fördern.

Schauspielerin vor drei großen Smart­phone­bild­schir­men

Nicht zuletzt war das einfache Setting – eine Schauspielerin vor drei großen Smart­phone­bild­schir­men – gut ins Digitale zu übersetzen, eine Qualität, die erstmals eine Rolle spielte. Und so wurde dieser Soloabend gleich hinter den Theaterschlachten „Der Zauberberg“ vom Deutschen Theater in Berlin und „Reich des Todes“ aus dem Schauspielhaus Hamburg gespielt.

Vor dem Triptychon der Bildschirme stellt die Schauspielerin Anne Tismer ein Alphabet vergessener Frauen vor. Darunter sind sehr viele Naturwissenschaftlerinnen, Physikerinnen, Chemikerinnen, Astronominnen, Mathematikerinnen, bis ins Mittelalter gehen die Geschichten oft zurück.

Die Performance ist viel mehr als ein Alphabet vergessener Frauen, sie zeigt Strategien des Vergessens

Zu Lebzeiten waren sie manchmal kurze Zeit anerkannt, bald aber wurden ihre Erkenntnisse von männlichen Kollegen vereinnahmt und ihre Namen verschwanden. Bis sie im Zuge feministischer Forschungsvorstöße in den 1970er/1980er Jahren wiederentdeckt wurden. Das ist die Zeit, in der Tismer sich für diese Geschichten zu interessieren begann. So repräsentieren sie und die Regisseurin zwei unterschiedliche Generationen auf der Suche nach den übersehenen Frauen.

Tismer hat eine Vorliebe für Zahlen, Mathematik, das Universum, die Atome und den Ausdruckstanz. Sie erklärt viel und tanzt Flugbahnen des Mikro- und Makrokosmos, versucht mit beiden Händen am Weltverständnis zu weben. Das ist manchmal auch komisch. Vor allem aber merkt man, diese Begeisterung für die Naturwissenschaft ist fremd im Theater. Aber selbst wenn man nur die Hälfte versteht, ist es eine Horizonterweiterung.

Erfolg mit Stoffdesign

Tismer hat lange in Togo gelebt, viele ihrer Beiträge beziehen sich auf afrikanische Frauen. Wie Les Nana Benz, die mit ihren Stoffdesigns so großen Erfolg hatten, dass sie sich eben einen Benz leisten konnte. Trägt man den Stoff mit den Pfeilen, ist es der Tag, an dem man keine Lust hat auf Kontakte. Für ein Kind, das gerade das lateinische Alphabet lernen muss, ist der Stoff mit dem Alphabet.

Oft sind die Informationen zu den Frauen nur kurz, aber dennoch bieten sie mehr als etwa ein Wikipedia-Eintrag, wenn der nicht gar ganz fehlt. Tismer bittet zum Beispiel die Augen zu schließen und einem Vortrag zur Eröffnung einer Ausstellung von Josephine Nivision (1883–1968) im Whitney Museum zu folgen. Ihre Porträts und Interieurs werden beschrieben, die oft einem Filmstill gleichen. Zu sehen bekommt man die Bilder nicht.

In Wikipedia taucht sie nur als Josephine Hopper, Ehefrau von Edward Hopper, auf, um dessen Werk sie sich kümmerte. Eine Einblendung auf einem der Bildschirme in der Performance informiert, dass seine und ihre Werke an das Whitney Museum gingen, das einen Teil der Werke der Malerin vernichtet hat. So markiert die Performance Lücken und erzählt, wie sie nicht zufällig entstanden.

Ein Beitrag widmet sich der Rede von der Ausnahmekünstlerin, die als Einzige aus einer Epoche bleibt; eine Floskel, so analysiert es Tismer, um andere gute Künstlerinnen abschreiben zu können. Die Performance wird so viel mehr als ein Alphabet vergessener Frauen, beleuchtet in Exkursen die Strategien des Vergessens und lässt neben den Vorgestellten ahnen, dass die Geschichtsschreibung mindestens so viele Lücken hat wie es Löcher im Schweizer Käse gibt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.