HDP-Prozess in Ankara: Tumulte zum Auftakt

In der Türkei hat ein Mammutverfahren zu tödlichen Protesten gegen den IS-Angriff auf Kobane im Jahr 2014 begonnen. Die Kurdenpartei HDP spricht von einem „Racheprozess“

Seit 2016 in U-Haft: der ehemalige HDP Co-Vorsitzende DemirtaşEmrah Gurel/ap/dpa Foto: Foto:

Von Wolf Wittenfeld

Unter starken Einschränkungen für die Öffentlichkeit hat am Montag im Gerichtssaal des Gefängnisses Sincar bei Ankara das Hauptverfahren gegen den früheren Vorsitzenden der links-kurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, und weitere 107 FunktionärInnen begonnen. Ein Polizeiaufgebot behinderte am Morgen eine Stellungnahme des aktuellen Co-Vorsitzenden, Mithat Sancar. Journalisten wurden gehindert, ihn zu filmen, der sagte: „Dieser Prozess ist ein Racheprozess der Regierung, die nicht verdaut hat, dass der IS 2014 in Kobane von den Kurden besiegt werden konnte“.

Der Prozess soll die Ereignisse um die türkisch-syrische Grenzstadt Kobane aufarbeiten, die 2014/15 von der IS-Terrormiliz belagert wurde. Weil die türkische Armee damals die Kurden aus der Türkei daran hinderte, ihren Verwandten jenseits der Grenze zu Hilfe zu kommen, rief Demirtaş zu Protesten auf. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden, Polizei, Gendarmerie und IS-nahen Organisationen, die nach Angaben der HDP zu 43 Toten führten. Die Staatsanwaltschaft spricht von 37 Toten.

Die Toten, die laut HDP überwiegend Parteianhänger waren, werden nun der damaligen HDP-Führung und der Partei als ganzer zur Last gelegt. Insgesamt sind 108 Menschen wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ angeklagt, außerdem wegen 37-fachen Totschlags.

Trotz der zumindest indirekten Parteinahme für den IS durch die türkische Regierung wurde der IS letztlich von den kurdischen Verteidigungskräften mit Unterstützung der US-Luftwaffe zurückgeschlagen.

Für die prominentesten Angeklagten, Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die damaligen ParteiführerInnen, fordert die Staatsanwaltschaft mehrmals lebenslängliche Haft, insgesamt für alle Angeklagten mehrere Tausend Jahre. Demirtaş und Yüksekdağ wurden 2016 verhaftet und sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Mit ihnen sitzen 26 weitere Angeklagte in U-Haft. Sechs der Angeklagten sind auf freiem Fuß, 72 sind flüchtig.

Gegen Demirtaş laufen aktuell mehrere Gerichtsverfahren; in einem wurde er bereits zu vier Jahren Haft wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“ verurteilt. Das Urteil erfolgte, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2018 seine Freilassung forderte. 2020 forderte dann die Große Kammer des EGMR wieder die Freilassung. In diesem Verfahren entschied der EGMR auch, dass der Aufruf zu Demonstrationen 2014 von der Meinungsfreiheit gedeckt war. Die türkische Regierung lehnte eine Freilassung aber ab.

„Wir werden nicht einmal unsere Personalien angeben“

Selahattin Demirtaş

Der Prozess am Montag begann mit Tumulten. Zunächst verweigerte das Gericht einem Teil der AnwältInnen die Teilnahme, woraufhin sich die gesamte VerteidigerInnen-Riege zurückzog. Demirtaş, der aus seinem Gefängnis in Edirne per Video zugeschaltet war, kündigte daraufhin an, jede Kooperation zu verweigern: „Wir werden nicht einmal unsere Personalien angeben“, solange die AnwältInnen nicht da seien.

Nachdem dies geklärt wurde und die VerteidigerInnen wieder im Saal waren, ließ der Vorsitzende dann Demirtaş nicht reden, was erneut zu Tumulten führte. Der erste Prozesstag war der Verlesung der 3.000 Seiten langen Anklage gewidmet.

Den Prozess wollten etliche Vertreter in- und ausländischer Menschenrechtsorganisationen beobachten. Vielen wurde der Zutritt jedoch verweigert. Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, bezweifelte in einer Stellungnahme, dass gegen die Angeklagten ein fairer Prozess stattfinden werde und forderte, dass die türkische Regierung endlich die Forderungen des EGMR umsetzt.