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Im Bunker

Nächtelang liegt Tel Aviv unter dem Beschuss von Raketen. Tagsüber ist der Strand menschenleer, Schulen, Kindergärten und viele Geschäfte geschlossen. Die Menschen verkriechen sich in die Notunterkünfte

Aus Tel Aviv Judith Poppe

Keine Minute nachdem die erste Sirene um neun Uhr abends heult, sind schon die ersten Raketen am Himmel zu sehen. Während die Menschen noch auf dem Weg in einen Luftschutzbunker im Süden von Tel Aviv sind, ist der Himmel bereits voller Lichter. Wie in einem „Star Wars“-Film leuchten gelbe Streifen auf, Explosionen folgen, verursacht durch die sogenannte Eisenkuppel – das israelische Raketenabwehrsystem.

Am Eingang zum Luftschutzbunker drängen sich ein Dutzend Menschen aufgeregt die Stufen hinunter. „So schlimm war es noch nie“, sagt eine Frau mit einem schlafenden Kind im Arm. Sie schnappt nach Luft und setzt sich unten angekommen auf eine der staubigen Bänke. Einige Familien hocken bereits an die Wand gelehnt auf schmutzigen Teppichen, ein kaputter Kicker steht verstaubt und ohne Ball im Raum.

Kurz darauf hört man den Abschuss von Raketen, es geht Schlag auf Schlag. Dass der an den Gazastreifen angrenzende Süden mit den Städten Ashkelon und Ashdod mit Raketen angegriffen wird, ist in Israel trauriger Alltag. Doch einen derartigen Raketenhagel von Gaza auf Tel Aviv hat es in der Geschichte Israels noch nie gegeben. Bei den über 1.400 Raketen, die bis zum Donnerstagmittag auf Israel abgeschossen wurden, 400 von ihnen auf Städte im Zentrum Israels, rutschen dem Abwehrsystem so einige durch. 264 Einschläge auf besiedeltes Gebiet verzeichnet das Militär bis zum Donnerstag. Ein Mann und seine Tochter aus Lod, etwa zwanzig Autominuten von Tel Aviv entfernt, werden in der Dienstagnacht in ihrem Auto von einer Rakete getroffen und getötet. Zuvor trifft es eine Frau aus Rishon LeZion. Bis zum Donnerstag sind in Israel sieben Opfer zu beklagen.

„Gaza ausradieren sollten sie“, raunt ein Mann im Tel Aviver Bunker. In Gaza, rund 60 Kilometer von Tel Aviv entfernt, sind bis zum Donnerstag 83 Menschen bei den Vergeltungsangriffen der israelischen Luftwaffe getötet worden, unter ihnen zahlreiche Kinder.

Ein kleiner Junge aus der Nachbarschaft, dessen Eltern aus dem Sudan nach Israel geflüchtet sind, zittert und weint. „Warum tun sie das?“, fragt er immer wieder. „Wie in Afrika“, wiederholt seine Mutter und hebt ihre Arme gen Himmel.

Drei Mal wird die Tel Aviver Nachbarschaft in dieser Nacht aus den Betten geholt und drängt sich in Shorts und Schlafshirts in den kahlen Räumen unter der Erde zusammen. „Wie soll ich bloß morgen arbeiten“, flüstert eine Frau ihrem Mann zu und zuckt zusammen, als von draußen wieder der Abschuss einer Rakete zu hören ist.

Die meisten verfolgen die laufenden Nachrichten auf ihrem Handy. Wo die letzten Raketen eingeschlagen sind. Aber auch, was auf den Straßen in den jüdisch-arabischen Städten los ist, vor allem in Lod nahe dem internationalen Flughafen. Palästinensische Israelis haben in dieser von Juden und Arabern bewohnten Stadt in der Nacht auf den Mittwoch drei Synagogen angegriffen. An­woh­ne­r*in­nen berichten, dass Brandbomben durch ihre Fenster geflogen seien. Kurz danach wird auch ein muslimischer Friedhof in Brand gesetzt, wohl ein Racheakt von jüdischen Be­woh­ne­r*in­nen der Stadt.

Flugverkehr in Israel wegen der Raketenangriffe gestört

Umleitung Flüge zum interna­tionalen Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv sind wegen des anhaltenden Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen am Donnerstag umgeleitet worden. Die Maschinen landeten bei Eilat am Roten Meer.

Angriff Auf dem dortigen Flughafen wurde der Verkehr kurzzeitig unterbrochen, nachdem die islamistische Hamas eine Rakete mit großer Reichweite aus Gaza in Richtung Eilat gestartet hatte. Schäden wurden nicht gemeldet.

Ausfälle Viele internationale Fluggesellschaften wie Lufthansa und British Airways haben ihre Flüge nach Israel vorläufig ausgesetzt. Lufthansa teilte mit, dass die Flüge voraussichtlich Samstag wieder aufgenommen werden. (taz)

Der Bürgermeister von Lod spricht von einer „Kristallnacht“ und einem „Bürgerkrieg“. Jahrzehntelange Bemühungen um eine friedliche Koexistenz seien gescheitert.

Auf Facebook postet Tomer Persico, ein Nahost-Spezialist, dass das, was heute Abend in Lod passiere, viel besorgniserregender sei als eine weitere Runde gegen die Hamas, so schwer diese auch sein mag. „Es wird lange dauern, bis sich die Stadt davon erholen wird“, sagt er.

Noch zu Wochenbeginn solidarisierten sich viele jüdische Israelis mit den palästinensischen Protesten in Jerusalem, die dort seit schon drei Wochen anhalten und mit den Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg ihren Höhepunkt erreicht haben. Anlass dafür war auch eine Entscheidung der Polizei gewesen, die Stufen vor dem Damaskustor abzusperren und damit jungen Muslimen Ostjerusalems ihren traditionellen Treffpunkt an den Ramadan-Abenden zu nehmen.

Auch in den Augen vieler jüdischer Israelis war dies ein fataler Fehler. Auch über die drohenden Zwangsräumungen von palästinensischen Familien im Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, einem arabisch geprägten Viertel, waren viele erzürnt.

Doch von den Ursachen der palästinensischen Proteste in Jerusalem und in anderen Städten Israels spricht jetzt, da Tel Aviv mit Raketen angegriffen wird, kaum noch jemand. Thema sind jetzt die Nacht in Lod und die Kämpfe zwischen Hamas und Israel. Durch den Angriff der Islamisten geraten die von der Zwangsräumung bedrohten palästinensischen An­woh­ne­r*in­nen in Sheikh Jarrah aus dem Blickfeld.

„Das hier alles zeigt, dass man mit arabischen Parteien keine Regierungskoalition bilden kann“, raunt ein Mittdreißiger im Bunker und streicht seinem Hund über den Kopf. Er bezieht sich auf die derzeitigen Koalitionsverhandlungen. Oppositionsführer Jair Lapid von der Zukunftspartei versucht derzeit, eine breite Einheitsregierung auf die Beine zu stellen, nachdem Premier Benjamin Netanjahu mit der Regierungsbildung gescheitert ist.

Ein Teil dieser von Lapid angestrebten Regierung müsste die arabisch-islamische Partei Ra’am werden. Doch nun hat Mansour Abbad, der Vorsitzende von Ra’am, die Koalitionsverhandlungen vorerst auf Eis gelegt. Mit den derzeitigen Ereignissen wird auch die Hoffnung vieler auf einen Führungswechsel an der Spitze des Staates zunichtegemacht.

Am nächsten Morgen ist die Mutter des Jungen, der in der Nacht eine Panikattacke erlitten hatte, wieder auf der Straße. „Ist es jetzt vorbei?“, fragen die beiden. Doch auch am Mittwoch geht der Beschuss von Gaza auf Israel weiter. Im Süden verstärkt die Hamas ihre Angriffe wieder. Eine Panzerabwehrlenkwaffe wird auf einen israelischen Jeep in der Nähe der nördlichen Gaza-Grenze abgefeuert, dabei werden eine Person getötet und zwei schwer verletzt.

Ein Waffenstillstandsangebot der Hamas, heißt es, habe Israel, aber auch die Hamas zuvor abgelehnt. Be­ob­ach­te­r*in­nen sagen, dass Israel vom aggressiven Vorgehen der Hamas überrascht worden sei. Jetzt gäbe es einen enormen Druck aus der Gesellschaft, mit aller Deutlichkeit zu reagieren.

Am Mittwochnachmittag meldet die Hamas den Tod mehrerer ihrer Anführer bei israelischen Militärangriffen im Gazastreifen – darunter der Chef des bewaffneten Arms der Hamas in Gaza, Bassem Issa, sowie weitere ranghohe Militärverantwortliche. Aus Kreisen der israelischen Armee verlautet, einer ihrer Soldaten sei von einer Rakete aus dem Gazastreifen getötet worden.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnt, dass die Operationen im Gazastreifen nicht so bald enden würden. „Das ist erst der Anfang“, sagt er. „Wir werden ihnen Schläge zufügen, von denen sie nie geträumt haben.“ Ein Sprecher der Hamas droht mit weiteren „Überraschungen“. Und so könnte es sein, dass sich die Tel Aviver auch in den kommenden Nächten wieder in den Luftschutzbunkern treffen werden.

„Das hier alles zeigt, dass man mit arabischen Parteien keine Regierungskoalition bilden kann“

Mann im Bunker

In der Nacht zum Donnerstag gehen die Raketenangriffe auf Israel weiter, auch Tel Aviv wird wieder beschossen. Im nahen Petah Tikva wird ein Wohnhaus getroffen, fünf Personen verletzt. Die Kindergärten und Schulen in Tel Aviv sind geschlossen, auch einige Geschäfte bleiben dicht. Der sonst von Tausenden bevölkerte Strand liegt da wie ausgestorben. In der Tel Aviver Blase, die für gewöhnlich von Raketenbeschuss verschont bleibt, vergraben sich in diesen Tagen die meisten Israelis in ihren Häusern.

In Gaza wird derweil ein Hochhaus nach dem nächsten von der israelischen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt. Anders als in Israel gibt es dort kein Raketenabwehrsystem und auch keine Luftschutzbunker.

Bassam Zaqout, ein Arzt aus Gaza, erzählt am Telefon, dass er sich mit seinen zwei Kindern und seiner Frau in einem Zimmer seiner Wohnung vergräbt und betet, dass es bald vorbei ist. An diesem Donnerstag beginnt das Fastenbrechfest, das das Ende des Ramadan markiert. „Heute wird die Depression der Kinder noch deutlicher. Sie hatten sich auf das Fest gefreut. Doch das fällt dieses Jahr aus.“

Am Donnerstagnachmittag heulen in Tel Aviv wieder die Sirenen. Die Menschen rennen in die Bunker.

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