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Den eigenen Hintergrund hinterfragenKeine Selbstidentifikation

Empathie mit den Opfern des NS-Regimes ist gut. Bei Zeit­zeu­g*­in­nen­ge­sprä­chen kommt es aber oft zur Überidentifikation.

Am 7. und 8. April 2021 ist im Israel Yom Hashoah – der Tag des Gedenkens an den Holocaust Foto: dpa / Divyakant Solanki

D er hundertste Geburtstag meiner Freundin Trude Simonsohn, Zeitzeugin und Auschwitz-Überlebende, gehört für mich zu den guten Nachrichten der letzten Wochen. Lange schon war der Termin Ende März notiert, aber natürlich, eine gewisse Ungewissheit war da. Umso mehr freute mich, dass Trude das Jubiläum mit dem für sie typischen Kampfgeist kommentierte: „Manchmal ist es nicht leicht, hundert Jahre alt zu werden. Aber für mich ist jeder Geburtstag ein kleiner Sieg.“

Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass Zeit­zeu­g*­in­nen wie Trude immer schon Teil der Erinnerungskultur waren. Doch wie viele andere Überlebende betont Trude, dass sich für ihre Geschichte jahrzehntelang niemand interessiert habe.

Erst nach der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ in Deutschland 1979 wuchs langsam das Interesse an der Geschichte der Überlebenden. Übrigens nicht nur in Deutschland – auch in Israel musste erst der Eichmann-Prozess 1961 stattfinden, bevor man sich für die Erzählungen der Opfer interessierte.

Bis kurz vor Corona traf sich Trude noch mit Schulklassen. Bei solchen Gelegenheiten erzählt sie, wie sie ins Ghetto There­sienstadt deportiert wurde, wo sie ihren zukünftigen Mann Berthold kennenlernte. Nur über Auschwitz spricht sie kaum – der Schrecken, schreibt sie in ihren Erinnerungen, habe eine „Ohnmacht der Seele“ ausgelöst. Lediglich das Gesicht Mengeles hat sie noch in Erinnerung. Niemand kann sagen, mit wie vielen Jugendlichen sie in den letzten dreißig Jahren gesprochen hat – sicher Tausende.

War Opa ein Nazi?

In einer Studie 2019 geben 32 Prozent der befragten Jugendlichen an, schon einmal an einem Zeit­zeu­g*­in­nen­ge­spräch teilgenommen zu haben. Wenn man bedenkt, wie wenige Überlebende unter uns sind, ist das sehr beeindruckend. Vergessen werden aber oft die anderen „Zeitzeug*innen“, die absolute Mehrheit der Täter*innen, Mit­läu­fe­r*in­nen und Zuschauer*innen, die keine Gespräche mit Schulklassen führen. Doch sie reden, am Küchentisch oder im Familienurlaub mit den Enkelkindern.

Was „ganz normale Deutsche“ aus der NS-Zeit erinnern und was davon weitergegeben wird, hat Harald Welzer in seinem Buch „Opa war kein Nazi“ beschrieben. Auch die Studien zum „Erinnerungsmonitor“ zeigen: Viele Deutsche glauben, dass Opa nicht nur kein Nazi, sondern selbst Opfer war oder jüdischen Personen geholfen habe.

Und diese Vorstellungen nehmen zu: 2019 glaubten noch 28 Prozent der Befragten, dass ihre Vorfahren Opfern geholfen haben; 2020 schon 32 Prozent. Über 40 Prozent denken, dass sie im Nationalsozialismus selbst zu den Verfolgten gehört hätten.

In deutschen Familien gibt es demnach vor allem Berichte über die Opfer- und Hel­fe­r*in­nen­schaft der Vor­fah­r*in­nen – nur selten aber über Täter*innenschaft. Interessanterweise befürworten Personen, die sich selbst zu potenziellen Opfern oder Hel­fe­r*in­nen zählen, auch stärker einen Schlussstrich unter die Nazizeit.

Fiktive Identifikation und artifizielle Betroffenheit

Die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe Christian Schneider kritisieren, dass sich die Nachkommen der Tä­te­r*in­nen ein „geliehenes Selbstbild des gefühlten Opfers“ angeeignet haben, um sich damit selbst von Schuld zu befreien. Wenn das Problem der Erinnerungskultur ist, dass es zu „fiktiven Identifikationen mit Opfern“ und „artifizieller Betroffenheit“ kommt, wie Jureit und Schneider argumentieren – was heißt das dann für die Zeitzeug*innenprogramme? Polemisch gefragt: Sind sie vielleicht sogar kontraproduktiv?

Die Entwicklung von Empathie und Identifikation mit den Opfern ist zunächst nicht problematisch, vielmehr Voraussetzung dafür, sich ein moralisches Urteil über die Vergangenheit zu bilden und sich dafür zu engagieren, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Nur durch Empathie kann ich eine Verbindung zu Unbekannten schaffen, an ihrem Schicksal Anteil nehmen. Dabei darf aber nicht das Bewusstsein der Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen, die Grenze zwischen Empathie und Selbstidentifikation schwinden.

Wir müssen Wege finden, eine Empathie zu vermitteln, die nicht zur Überidentifikation führt. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in der immer weniger Überlebende unter uns sind, aber immer mehr Menschen, die sich Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ aufkleben oder sich als Sophie Scholl inszenieren. Eine Aufgabe, für die man sich den Kampfgeist einer Trude Simonsohn zum Vorbild nehmen sollte.

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Meron Mendel
Meron Mendel ist Pädagoge, Historiker und Publizist. Seit 2010 ist er Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und Kassel
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4 Kommentare

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  • Meine Großeltern haben zeitlebens nicht ein Wort von selbst über die NS- Zeit gesagt. Als ich im Alter von 16 gefragt habe, war mein Großvater im Wohnzimmer verschwunden und meine Großmutter hat uns von den Autobahnen und den schönen Lagerfeuern beim BDM erzählt. Meine Mutter hat nachher wegen der Frage Ärger bekommen.

  • Das ist aber schon sehr interessant.



    Vor allem, da derzeit Selbstidentifikation in vielen Bereichen ja durchaus erwünscht ist.

    Ich bin sehr dankbar für meinen doch sehr neutralen Geschichtsunterricht. Wir haben intensiv vieles über die Gräueltaten der Nazis gelernt, aber niemals hat unser Lehrer uns vermittelt, dass unsere Vorfahren Nazis waren und wir als Nachfahre vielleicht noch dazu in der Lage wären, einfach, weil wir Deutsche sind und keine Juden und damit diese Monster in der Ahnanlinie hätten.



    Soll das heute anders sein?

    Wenn die meisten sagen, ihre Vorfahren wären keine Nazis gewesen, dann ist das doch einerseits ein gutes Zeichen, dass sich die meisten damit nicht mehr identifizieren, und andererseits insofern richtig, als dass vermutlich nur wenige freiwillig aktiv in der Partei waren oder in Positionen, in denen sie sich aussuchen konnten, ob sie Monster waren oder Fluchthelfer oder Mitläufer. Und selbst unter den Monstern gab es sicherlich psychologische Faktoren, die eher zum Mitlaufen oder zu Mittäterschaft bewegten, sei es Angst um das eigene Schicksal bei Widerstand oder die Dynamik einer Situation, in der das Grauen plötzlich normal wird und man damit Anerkennung bekommt.

    Fast jeder Mensch wird in seiner Ahnenlinie irgendjemanden haben, der an irgendwelchen Gräultaten oder Menschenrechtsverletzungen beteiligt war ODER nichts dagegen getan hat. Wie viele haben sich gegen die Hexenverfolgung oder Inquisition aufgelehnt? Sollen deren Nachfahren auch ewige Schuld tragen?

    Werden wir in 100 Jahren alle ehemaligen SPD-Wähler verurteilen, weil wir Hartz-IV als Menschenrechtsverletzung einstufen werden?

    Oder darf jeder bar der Schuld seiner Vorfahren sein eigenes Leben mit seinen eigenen Wertmaßstäben leben?

  • 1G
    14390 (Profil gelöscht)

    Mal ehrlich, wenn es um die Generation der Großeltern geht, ist doch mittlerweile eher die Rede von denen, die die Wende und die Wiedervereinigung miterlebt haben: wir haben das Jahr 2021, wer heute seine Volljährigkeit feiert, hat Großeltern, die in den 1960ern geboren wurden. Wir reden also bezogen auf diejenigen, die die Nazizeit als Erwachsene erlebt haben, von der Generation der (Ur-)Ur-Großeltern - wen wundert es da, daß Familienerinnerungen immer weiter verblassen bzw. das Interesse auch immer weiter nachläßt.

    • @14390 (Profil gelöscht):

      Da musste in den meisten Fällen gar nicht erst irgendetwas verblassen. Auch die Resultate mit befragten Personen, deren Grosseltern die NS-Zeit aktiv miterlebt haben, dürften dem in dem Artikel geschilderten Befund entsprechen.