: Auf die Straße gesetzt
Ein Flensburger Altenstift lässt ein offenkundig psychisch krankes Paar zwangsräumen. Dem bleibt zunächst nur die Wahl zwischen einer Obdachlosenunterkunft und der Psychiatrie
Von Esther Geißlinger
Als Marlies und Willi Hansen (Name geändert) am Vormittag des 4. Dezember 2020 vom Einkaufen für den Adventskaffee in ihre Wohnung zurückkehrten, passte ihr Schlüssel nicht mehr: In ihrer Abwesenheit hatte ihr Vermieter, die Diako Flensburg, das Schloss austauschen lassen. Am selben Nachmittag landeten die Hansens in der Psychiatrie in Schleswig. War das rechtens? Eine Juristin meint: Nein, der Zwangsräumungsbeschluss hätte dem offensichtlich psychisch kranken Paar nicht zugestellt werden dürfen.
Im März 2017 war das Ehepaar Hansen in die altengerechte Wohnanlage des Albertinenstifts in Harrislee bei Flensburg gezogen. Das Stift gehört zur Diako Flensburg. Sie betreibt ein Krankenhaus und mehrere Pflegeeinrichtungen. Das Leitbild orientiert sich an christlichen Werten: „Wir achten die Würde und die Persönlichkeit des einzelnen Menschen, unabhängig von seinen Stärken und Schwächen“, heißt es in der Selbstbeschreibung.
Doch was an jenem 4. Dezember mit Marlies und Willi Hansen passierte, hatte für Verena Simon (Name geändert), die Tochter von Marlies Hansen, wenig mit Würde und Achtung zu tun: „Als meine Mutter und mein Stiefvater feststellten, dass sie nicht mehr in ihre Wohnung kamen, fielen sie aus allen Wolken. Sie fragten bei der Verwaltung nach und wurden auf die Treppe geschickt. Sie saßen stundenlang mit ihren Tüten im Treppenhaus wie die armen Sünder, bekamen nichts zu essen und zu trinken.“
Die Verwaltung des Stifts rief die Polizei. Später ließ der Sozialpsychiatrische Dienst des Kreises die Hansens in das psychiatrische Krankenhaus in Schleswig bringen. Das bestätigt Ole Michel, der Sprecher der Diako.Aus seiner Sicht ist alles korrekt gelaufen: Das Verhalten des Paares sei untragbar gewesen. Der Diako blieb angeblich „keine andere Wahl, als das Mietverhältnis über unseren Rechtsbeistand fristgerecht zu beenden“.
Denn das Zusammenleben mit den Hansens war schwierig. Laut seien sie gewesen. Sie behaupteten, sie seien in der Wohnung Stromschlägen ausgesetzt, würden gefoltert und vergiftet. Nachbar:innen würden sie beschießen. Ihre Wohnung werde mit Kohlestaub und Kot beschmutzt, der Balkon mit Urin und Kot besprüht. Willi Hansen habe andere Mieter:innen beleidigt. „Einige waren derart eingeschüchtert und verängstigt, dass sie sich nicht mehr aus ihren Wohnungen wagten“, so beschreibt es der Sprecher.
„Ja, sie waren laut und auffällig“, sagt Verena Simon. „Aber sie sind krank, eben deshalb sind sie ja in diese betreute Wohnanlage gezogen.“ Sie findet, dass den beiden die Stunden auf der Treppe und die Zwangseinweisung in die Psychiatrie hätten erspart werden müssen: „Sie kamen gegen 15 Uhr in Schleswig an, warteten wieder, erst um 18 Uhr bekamen sie ein Zimmer und etwas zu essen. Sie haben mir später immer wieder erzählt, wie schlimm das war.“
Für das Krankenhaus hatten die beiden nichts dabei: kein Nachthemd, keine Zahnbürste, keine frische Wäsche, nur die Tüten mit dem Einkauf. Dabei war die Psychiatrie in der gegebenen Situation sogar die angenehmere Variante: „Wenn das nicht geklappt hätte, wären sie in einer Obdachlosenunterkunft gelandet“, sagt Simon.
Grundsätzlich darf ein Vermieter auch Menschen mit Behinderung kündigen, sagt Dirk Mitzloff vom Büro des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung: „Vermietern stehen natürlich auch gegenüber beeinträchtigten Menschen Rechte zu.“ Doch zuerst sollte es Gespräche und Schlichtungsversuche geben.
Die haben im konkreten Fall stattgefunden, auch die Zeit reichte eigentlich aus: Die Kündigung wurde Ende Mai zugestellt. „Da die Fristen von den Eheleuten ignoriert wurden, blieb uns nur die Zwangsräumung, die unser Rechtsbeistand bei Gericht durchgesetzt hat“, teilt die Diako mit.
Für die Tochter stellt sich die Lage anders da: „Bei allen Problemen hat sich die Verwaltung bei mir gemeldet. Aber als man beschlossen hatte, die beiden loszuwerden, habe ich davon monatelang nichts gehört und gesehen.“ Erst im November habe sie von dem drohenden Räumungstermin Anfang Dezember erfahren – rein zufällig: „Ich habe bei meinen Eltern die Bettwäsche gewechselt, da kam ein Bote vom Gericht.“ Sie habe ihre Eltern zur Rede gestellt, ihnen klar gemacht, was ihnen drohe. „Aber die haben gar nicht begriffen, worum es ging. Meine Mutter meinte, weil sie ihre Miete zahlen, könnte nichts passieren.“ In den verbleibenden Tagen habe Verena Simon versucht, die Räumung abzuwenden: „Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, noch ein ärztliches Gutachten eingeholt, aber ich hatte keine Chance. Wir standen vor vollendeten Tatsachen.“
In das Verfahren war auch die Gemeinde einbezogen. Ordnungsamtsleiterin Beeke Frenzen schildert das übliche Verfahren bei einer Räumung: „Je nach Einzelfall wird insbesondere mit Gesundheitsamt, Betreuungsgericht, Polizei und Gerichtsvollzieher*in das weitere Verfahren sowie die Begleitung des Räumungstermins abgestimmt.“ Wenn es sonst keine Unterkunft gebe, werde „eine auf die Situation des Einzelfalls abgestimmte Beherbergungsmöglichkeit angeboten“.
Eine Angehörige
Verena Simon hat sich die örtliche Obdachlosenunterkunft angesehen: „Meine Eltern hätten weder Sitzgelegenheiten noch Betten vorgefunden, und sie hätten von dort aus nicht einmal die Möglichkeit gehabt, ohne sie überfordernde Umstände den nächsten Supermarkt zu erreichen.“
Auch für Rüdiger Hannig, den Vorsitzenden des Landesverbands Schleswig-Holstein der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker, ist es keine Lösung, alte und offenkundig psychisch kranke Menschen in eine Obdachlosenunterkunft zu stecken. Er verweist auf die rechtliche Möglichkeit, nach einer Räumung Menschen vorübergehend wieder in die eigene Wohnung einzuweisen und ihnen so die Chance zu geben, eine neue Bleibe zu suchen. Dass das Paar den Räumungstermin nicht beachtete, ist nach Hannigs Erfahrung typisch: „Die Verletzung von Fristen ist das Hauptproblem für viele psychisch Kranke.“
Doch war die Räumung überhaupt rechtens? Eine Fachanwältin, die nicht benannt werden will, da sie kein Mandat für den Fall hat, bezweifelt das: „Wenn die Eheleute nicht geschäftsfähig waren, war die Zustellung der Räumungsklage nicht wirksam.“ Gerade ein fachkundiger Vermieter wie die Diako hätte das wissen müssen, findet die Anwältin. Damit sei das gesamte Verfahren fragwürdig. Ihrer Meinung nach hätte erst ein Betreuer eingesetzt werden müssen. Doch den erhielt das Paar erst nach der Räumung.
Die Frage bleibt offen, ob ein Betreuer die Lage wirklich hätte lösen können – Beteiligte bezweifeln das. Vielleicht hat es den „Knall“, die Eskalation gebraucht, um dem Paar vor Augen zu führen, dass sie Hilfe brauchten. Zumindest habe sich nach dem mehrwöchigen Aufenthalt in der Psychiatrie ihr Zustand verbessert, berichtet die Tochter. Sie hat eine neue Wohnung für die beiden gefunden. Mit Hilfe eines Pflegedienstes können sie dort eigenständig leben.
Ende gut, alles gut? Bei Verena Simon bleibt Ärger über das Verhalten der Diako, das auch finanzielle Folgen hatte: Obwohl Hansens weiter Miete bezahlten, durfte die Tochter nur „unter Aufsicht“, so hat sie es empfunden, in die Räume. Schließlich räumte die Diako Möbel und privaten Besitz und lagerte ihn kostenpflichtig ein. Das sei nötig gewesen, „da wir schon Nachfolgemieter hatten und die Wohnung umfänglich saniert werden musste“, sagt der Diako-Sprecher. Die Tochter aber wusste von nichts, wieder einmal: „Hätte die Verwaltung Bescheid gesagt, ich hätte die Möbel selbst geholt.“
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