die these
: DieKomplizenschaft
der
Männer
ist
das
Problem

Von Waltraud Schwab

Es ist ein modernes Drama: Da ist ein Mann, der taxiert die junge Frau, die neben ihm steht, und legt seine Hand dann auf ihre Schulter. Sie windet sich und verlässt schnell den Raum. Bald laufen sich die beiden jedoch wieder über den Weg. Er hält sie auf, flüstert ihr etwas zu. Sie dreht den Kopf weg. Kurz darauf taucht der Mann erneut auf, genau in dem Moment, als sie alleine vor dem Getränkeautomaten steht. Er geht auf sie zu, sagt: „Ich könnte Sie fördern.“ Er sagt „könnte“. Das heißt: Er kann. Wenn er will. Er hat die Macht. Er kennt den Rahmen. Bei der nächsten Begegnung tut sie so, als hätte sie ihn nicht gesehen, und verschwindet. Bald aber kreuzen sich ihre Wege wieder. Wie zufällig streift er sie. Sie versucht auszuweichen. Er fragt: „Warum ziehen Sie nicht mal einen Rock an und tragen Stöckelschuhe?“

Kennt jemand ein Theaterstück, in dem so eine Situation gespielt wird? Denkbar. Und plötzlich stellt sich, wie am Wochenende an der Volksbühne in Berlin geschehen, heraus: Es ist gar kein Spiel. Es ist Ernst. Und es ist ein Muster. Da sind andere Frauen, denen der Mann sich auf ähnliche Weise nähert.

Dann jedoch passiert Überraschendes in diesem Stück mit verteilten Rollen: Zwei Kollegen kommen auf den Mann zu und sagen zu ihm: „Wir haben beobachtet, wie Sie die Grenzen der Kolleginnen nicht respektieren. Warum machen Sie das?“

An diesem Punkt wird die Sache ungemütlich, denn es ist nicht klar, wie der Angesprochene reagiert. „Was wollen Sie?“ „Was mach ich denn?“

„Sie nutzen Ihre Macht Frauen gegenüber auf eine ungute Art“, antwortet einer der Kollegen, „und das stört das Arbeitsklima für alle.“ (Absichtlich treffen hier zwei Männer auf den einen. Denn so ein Gespräch braucht Zeugen.)

Warum das hier steht? Weil ich davon ausgehe, dass es in vielen Situationen, wo Männer und Frauen zusammentreffen, egal ob auf der Arbeit, im Sport, im Kulturbetrieb, in der Kirche, der Kunst, sexistische Situationen und übergriffigen Machtmissbrauch geben kann. Dass es jedoch, davon gehe ich auch aus, in genauso vielen Situationen Männer gibt, die sich der Wirkung ihres Verhaltens bewusst sind und sexistisches oder übergriffiges Gebaren lassen.

Die obige Szene steht hier jedoch auch, weil ich darauf warte, dass diese gendersensiblen Männer ihre Augen und Ohren aufmachen und dass sie sich einmischen, noch bevor es zum Eklat kommt, um auf sexistisch handelnde Kollegen einzuwirken. Dass sie von ihnen fordern, Frauen respektvoll zu begegnen. Ich warte darauf, dass sie übergriffigen Männern signalisieren: Hört auf damit! Wir sind nicht nur ein Kollektiv, sondern in dieser Sache auch ein Korrektiv! Würden sie es tun, es wäre eine Win-win-Situation für alle.

Die Geschehnisse an der Volksbühne, wo der mittlerweile zurückgetretene Intendant zumindest signalisiert, dass er sich Frauen gegenüber fehlverhalten hat, ist kein Einzelfall. Sie ist nur gerade die neueste Schlagzeile dazu. Kurz nachdem sexistisches Verhalten vom Chefredakteur bei der Bild-Zeitung bekannt wurde, der seine Arbeit mittlerweile ruhen lässt, die Vorwürfe aber bestreitet. In anderen Theatern, Fernsehanstalten, der Kirche rumort und rumorte es MeToo-bezüglich auch.

Überall in diesen Institutionen wird es aber auch geschlechtersensible Männer geben, selbst bei der Bild.

Es müsste also gar nicht so weit kommen, dass Männer erst als Täter gebrandmarkt werden, wenn es eine offene solidarische Kultur unter Männern gäbe, um sexistisches und inakzeptables Verhalten Frauen gegenüber frühzeitig zu stoppen.

Solange es diese nicht gibt, müssen Frauen ihre Reputation, ihre berufliche Existenz, ihre Karrie­re, ihren Ruf aufs Spiel setzen, wenn sie sexistisches Verhalten öffentlich machen. Da wird Verantwortung für falsches Verhalten auch noch an die Opfer delegiert.

Es kann sein, dass die integren Männer nichts mitbekommen. Ja, das kann wirklich sein. Laut der Pilotstudie „Sexismus im Alltag“, die 2020 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegeben wurde, nehmen die Hälfte der Männer, aber auch ein Drittel der Frauen Sexismus im Alltag nicht wahr. Die einen, weil sie ihm keine Bedeutung beimessen, die anderen, weil sie sich ein dickes Fell zugelegt haben. Männer und Frauen deuteten anders, wann und ob eine Situation sexistisch sei. Sexismus sei ein „unterdefinierter“ Begriff, schreiben die AutorInnen der Studie.

Um diese Diskrepanz in den Griff zu bekommen, schreiben sie auch von einer Asymmetrie in der Wahrnehmung zwischen Tätern und Betroffenen. Täter seien nicht bereit, sich die Wirkung ihrer beispielsweise von Ignoranz, erotischem Egoismus, Überlegenheits- oder Machtbedürfnissen getragenen „ausgesandten Signale auf aktuell oder potenziell betroffene Personen vorzustellen und sie zu verantworten“. Gleichzeitig wird betont, dass auch Betroffene nicht per se passiv seien, „sondern in einem aktiven Deutungsakt bestimmte Signale als sexistisch deuten, dadurch mental und emotional ernsthaft verletzt werden und sich herabgewürdigt fühlen“.

Die Wahrscheinlichkeit, dass gendersensible Männer mitbekommen, wenn ein Kollege sexistisch agiert, ist mittlerweile aber doch groß. Denn – und das ist das Verdienst der MeToo-Debatte – viele betroffene Frauen vertrauen sich anderen an, anderen Frauen und auch vertrauenswürdigen Männern.

Solange aber die Männer, die kapiert haben, um was es geht, und denen Betroffene erzählen, was da passiert, nicht wirksam und sichtbar intervenieren, solange es also wie ein Tabu wirkt, dass Männer Männer einhegen, wenn diese sexistisches Gebaren an den Tag legen, wird sich nichts ändern; schlimmer noch: Die Männer, die nichts sagen, machen sich selbst zu Komplizen der Sexisten.

Früher war die Komplizenschaft der Männer das gemeinsame Schenkelklopfen. Heute ist es das Schweigen. Dass der Kultursenator von Berlin den Intendanten an die Volksbühne berief, obwohl die Vorwürfe aus dessen früheren Tätigkeiten an anderen Theatern irgendwie im Raum standen, zeigt diese verschwiegene Solidarität an der falschen Stelle und mutet kumpelhaft an.

Studien aus Amerika zufolge hat die MeToo-Debatte aber nicht nur dazu geführt, dass Übergriffe nun verstärkt öffentlich gemacht werden. Sie habe laut Forschungen der University of Houston auch dazu geführt, dass männliche Arbeit­geber nun seltener Frauen einstellen. Ah, schlecht gelaufen, könnten Sexisten frohlocken. Aber wenn es wirklich so ist, ist es für alle schlecht. Männer stehen verstärkt am Pranger und Frauen bleiben benachteiligt im Job.

Dank MeToo finden Frauen, wenn sie Sexismus erfahren, nun in der Öffentlichkeit Gehör. Das ist das Neue. Aber diese Situation zementiert die ohnehin schier unüberwindbare Trennung in Täter und Opfer, die im schlechtesten aller Fälle dann noch umgedreht wird und die Frauen, die Opfer sind, zu Täterinnen stempelt, wenn sie der Reputation der Männer schaden, deren Namen sie öffentlich machen. Dass alle in diese Falle tappen, könnten Männer, die solidarisch mit Frauen sind, mindern. Aus Feigheit den Mund zu halten lohnt also nicht.

„Wenn wir Geschlechtergerechtigkeit anstreben, brauchen wir einen Kulturwandel – und der gelingt unter anderem durch mehr bewusste männliche Solidarität am Arbeitsplatz“, schrieb Jessica Wagener auf ze.tt, als sie sich mit den Folgen der MeToo-Debatte beschäftigte. Sie hat recht. Denn Männer und Frauen können sich nicht auf Augenhöhe begegnen, wenn alles auf einen Täter-Opfer-Diskurs hinausläuft.

Damit eine kooperierende Entwicklung von allen ohne sexistische Ausfälle möglich ist, dürften Männer, die geschnallt haben, um was es geht, die Verantwortung für den Kulturwandel nicht an die Frauen delegieren. Männer müssen Männern Geschlechtergerechtigkeit beibringen. Nicht nur am Arbeitsplatz, auch im häuslichen Rahmen, in der Kirche, im Sport, in der Kunst. Männer müssen Männer erziehen. Es ist so einfach. So klar.

Waltraud Schwab ist Redakteurin der taz am wochenende. Soeben erschien ihr Roman „Brombeerkind“. Um die Rolle des Journalismus bei der Abbildung der Wirklichkeit geht es darin auch.