„Gottesdienste sind eine Art Gesamtkunstwerk“

Kunst in der St.-Matthäus-Kirche ist und war auch zu sehen, als Museen schließen mussten. Ein Gespräch mit Hannes Langbein, Direktor der Stiftung St. Matthäus, über den Dialog zwischen Kunst und Kirche und das Wechselspiel zwischen Glauben und Zweifel

Der Pfarrer der Kunst­kirche St. Matthäus, Hannes Langbein Foto: Ronald Berg

Interview Ronald Berg

Während des Lockdowns war die St.-Matthäus-Kirche am Kulturforum der einzige Ort – zumindest in Berlin –, wo öffentliche Kunstausstellungen „indoor“ zu sehen waren – und zwar nicht nur zum Gottesdienst sondern zu regelmäßigen Öffnungszeiten, während ringsum Staatsbibliothek, Philharmonie und Staatliche Museen geschlossen bleiben mussten. Grund für diesen Umstand war die politische Ent­scheidung, dass die freie Religionsausübung in den Kirchen auch im Lockdown garantiert bleiben sollte. Die St.-Matthäus-Kirche ist allerdings insofern ein besonderer Fall, als es sich um keine gewöhnliche evangelische Pfarr­kirche mit eigener Gemeinde handelt, sondern sie von einer Stiftung betrieben wird, die sich weitgehend selbst finanzieren muss.

Direktor der Stiftung St. Matthäus ist seit 2008 Hannes Langbein. Er ist Redakteur der Zeitschrift kunst und kirche, Präsident der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche „Artheon“ und als Pfarrer von der evangelischen Landeskirche an die Stiftung ausgeliehen mit dem Auftrag, den „Dialog zwischen Kunst und Kirche“ in St. Matthäus vorbildhaft zu verwirklichen. Zurzeit ist in St. Matthäus der raumfüllende „Kreuzweg“ von Künstlerstar Gregor Schneider zu sehen, der seine begehbare Installation ursprünglich einmal für den Außenraum eines Berliner Museums entworfen hatte.

taz: Herr Langbein, ist es gerecht, dass derzeit in Ihrer Kirche eine Kunstausstellung stattfindet, während gegen­über bei den Museen des ­Kulturforums alles geschlossen bleiben muss?

Hannes Langbein: Was wir hier in St. Matthäus ausstellen, ist immer auch Teil des religiösen Lebens. Diese Kirche bzw. die Stiftung St. Matthäus hat ja den Auftrag, einen Dialog zwischen Kunst und Kirche zu führen. Ich verstehe das so, dass Kunst in der Kirche immer Teil des Kirchenraums ist. Und deshalb arbeiten wir auch so stark mit dem Raum und nicht nur mit Bildern an den Wänden. Die Kunst schafft einen anderen Raum, der dann auch die Liturgie beeinflusst. Bei Gregor Schneider ist der Raum beispielsweise fast ganz voll und man kann sich nicht mehr wie gewohnt darin bewegen. Das bedeutet, der Gottesdienst muss ganz anders stattfinden.

Tatsächlich ist es aber doch so, dass Gregor Schneider seine Kunst derzeit nicht in Museen ausstellen dürfte. Wiegt Religionsfreiheit also höher als Kunstfreiheit?

In der aktuellen Situation sieht es fast so aus, obwohl beide Freiheiten ja ebenbürtig sind. Es wurde deshalb auch schon vorgeschlagen, die Kirche sollte sich mit den Künstlern und Museen solidarisieren und auch zumachen. Das ist für mich der falsche Weg. Wenn es schon einen Ort gibt, der öffnen darf, dann ist es doch besser, die Künstler, die woanders nicht auftreten können, in die Kirche einzuladen und etwas dort machen zu lassen. Zumindest innerhalb des Rahmens, den wir ja ohnehin haben – also des Gottesdienstes. Genau das machen wir ja zum Beispiel auch durch Lesungen von Schauspielern des Berliner Ensembles in den Mittagsandachten. An dieser Stelle kann die Religionsfreiheit der Kunstfreiheit aushelfen.

Ist diese Praxis nicht auch ein Test auf die Infektiosität des künstlerischen bzw. liturgischen Geschehens? Haben Sie denn Infektionen gehabt bei den Besuchern Ihrer Veranstaltungen?

Nein, gar nicht. Seit Wieder­eröffnung nach dem ersten Lockdown im Mai unter den Auflagen mit Abstand, Masken, ohne Gesang und mit kürzeren Gottesdiensten ist Gott sei Dank nichts passiert.

In ähnlichem Rahmen – also ohne Gesang und mit Abstand – könnte man dann doch ähnliche Veranstaltungen auch in der vergleichsweise riesigen Gemäldegalerie durchführen.

Natürlich. Wenn man es vergleicht, gibt es keine sachlichen Gründe, warum man nicht auch die Museen – vielleicht auch die Konzertsäle und Theater – mit entsprechenden Hygienekonzepten öffnen könnte. Ich habe mich daher selbst gefragt, was der Grund ist, warum die Kirchen öffnen dürfen.

Sie müssten dann doch auf Ihre besondere Aufgabe für das Seelenheil hinweisen, oder?

Genau. Das scheint ja auch nach wie vor so zu sein: Wenn es Krisen oder Katastrophen gibt, dann gehen die Menschen immer noch eher in die Kirche und nicht als Erstes ins Museum. Vielleicht schwingt da auch eine gesellschaftliche Ahnung mit, dass es wenigstens einen freien Bereich braucht und dass dies die Kirchen sein könnten.

Das ist ja die Argumentation der Politik: Die Kirchen seien für die seelische Gesundheit die entscheidende Instanz. Obwohl das bei manchen wohl vermutlich auch das Museum sein könnte.

Absolut. Der große Kulturtheologe Paul Tillich, der hier in St. Matthäus ordiniert worden ist, hat mitten im Ersten Weltkrieg im Kaiser-Friedrich-Museum, also dem heutigen Bodemuseum, vor einem Botticelli Trost gefunden – für ihn eine Art Erweckungserlebnis.

Ist denn Gottesdienst ohne Kunst überhaupt denkbar?

Nein. Gottesdienste sind ja eine Art Gesamtkunstwerk. Die Musik mit Gesang, die Literatur mit Lesung und das Theatralische mit der liturgischen Inszenierung spielen ihre Rolle mit ebenso wie das Licht und die Architektur. Es ist ein synästhetisches Ganzes, was im Gottesdienst stattfindet. Deshalb würde ich sagen, Kunst und Kirche gehörten immer schon zusammen.

Gregor Schneider, Kreuzweg (nach einer Idee für Berlin 2006), St.-Matthäus-Kirche am Kulturforum, Berlin 2021 Foto: Leo Seidel/Stiftung St. Matthäus

Aber hat die Kunst im Kontext von St. Matthäus nicht eine Sonderrolle?

Die Kunstarbeit in St. Matthäus ging ursprünglich aus von der Serie „Das andere Altarbild“ – initiiert durch meinen Vorgänger Christhard-Georg Neubert. Da hat er an ein historisches Format angeknüpft, aber zeitgenössische Künstler eingeladen, etwas zu gestalten. Das ist natürlich etwas Besonderes. Damit ist unsere Kirche so eine Art Schaufenster, wie der Dialog zwischen Kunst und Kirche funktionieren kann, in dem Sinne, dass hier etwas kultiviert wird, wovon andere womöglich lernen könnten.

Es gibt vonseiten der Künstler keine Bedenken, für protestantische Zwecke vereinnahmt zu werden?

Das versuchen wir ohnehin zu vermeiden. Wir versuchen stark von der künstlerischen Intention her zu denken. Trotzdem wird allein durch die Platzierung im Kirchenraum zwangsläufig eine bestimmte Interpretationsperspektive angesprochen – was die meisten Künstler, die hier ausstellen, aber eher als Bereicherung erleben

Heißt das nicht: Der sakrale Kontext mit dem Gottesdienst wird die Kunst im Kirchenraum immer zum Zwecke des Gotteslobs umkodieren – ob er will oder nicht?

Das würde ich nicht so eng sehen. Wir geben der Kunst keine Zwecke vor. Der Gottesdienst selbst wird natürlich zur Ehre Gottes gehalten. Aber hier in St. Matthäus ist es auch eine besondere Situation: Wir haben ja als Stiftungskirche keine eigene Gemeinde, sondern sind im Prinzip für alle da, die kommen. Das führt dazu, dass der Gottesdienst nicht nur ein affirmatives Geschehen zum Lob Gottes darstellt, sondern auch ein fragendes Geschehen. Also das Wechselspiel zwischen Glauben und Zweifel, das kriegt man heute gar nicht mehr raus. Und soll man auch nicht rauskriegen, würde ich sagen.

Gregor Schneider, Kreuzweg, bis 2. April in der Kirche St. Matthäus