Zur Manipulation von Wirklichkeit: Keine halben Sachen

Von Relotius über Jebsen bis Tellkamp: Nicola Gess untersucht die Rhetorik der Halbwahrheiten. Und deren Funktion im postfaktischen Diskurs.

Der Abschlussbericht zur Fälschungsaffäre des Spiegelreporters Claas Relotius liegt während der Präsentation auf einem Tisch im Verlagsgebäude.

Der Lüge auf der Spur: Abschlussbericht zur Fälschungsaffäre des Spiegel-Reporters Claas Relotius Foto: dpa

Halbwahrheit – ist das nicht die kleine, nette Schwester der Lüge? Wer nicht kritisieren will, greift zum verhaltenen Kompliment. Wer seine Hausaufgaben nicht geschafft hat, versucht es mit der halben Wahrheit. Notanker, die helfen, durch den Alltag zu navigieren – Rettungsstrategien für uns oder für andere. Eine Art Diplomatie im Kleinen vielleicht? Man muss ja nicht gleich das Lob der Lücke anstimmen.

Justiziabel im engeren Sinn sind Halbwahrheiten nicht: wenn man nicht gegen Informationspflichten verstößt. Fragen, die einem nicht gestellt werden, muss man nicht unbedingt beantworten. Und dann wäre da noch die Ökonomie der Mitteilung: Die ganze Wahrheit passt auf keine Zeitungsseite. Wer heute alles preis gibt, hat morgen nichts mehr zu verschenken. Die alten, verstaubten Sprichwörter braucht man da gar nicht zu bemühen: Reden, Schweigen, Silber, Gold.

Wie kommt man von der kleinen, netten Schwester der Lüge zu den Bad Boys des Rechtspopulismus, der Fälschung und der Verschwörungstheorie?

Adorno und Arendt

Nicola Gess nimmt sich die harten Fälle vor – in ihrem Essay „Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“. Die halbfiktiven Reportagen des früheren Spiegel-Reporters Claas Relotius, die verschwörungstheoretischen Videos des ehemaligen RBB-Journalisten Ken Jebsen, die politischen Äußerungen des Suhrkamp-Autors Uwe Tellkamp. Drei verdichtete Analysen und ein Theorieteil, der es in sich hat.

Die Basler Literaturwissenschaftlerin mobilisiert nicht nur die Kritische Theorie: Sie nimmt Adornos Ideologiekritik auf, bringt sie mit Hannah Arendts politischer Theorie zusammen. Ein spezifischer Theorie-Blend entsteht, weil Gess die Erzähltheorie dazunimmt. So bringt sie die Kompetenz fürs Gesellschaftliche mit der fürs Fiktive zusammen. Das verschiebt den Blick: von der Faktizität zur Glaubwürdigkeit.

Nicola Gess: „Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 157 S., 14 Euro

Wenn es um Glaubwürdigkeit geht, lässt sich von der Literaturwissenschaft und ihren Vorläufern lernen. Seit Jahrhunderten haben Poetiken die Frage erwogen: Was macht eine Geschichte plausibel? Natürlich, die Antworten darauf variieren. Fest steht jedoch: Faktentreue ist in der erzählenden Wiedergabe nicht zwingend überzeugend. Das frei Erfundene kann viel wahrscheinlicher klingen.

Die Spielwiese ist groß: Aus dem literarischen Werkzeugkasten lassen sich verschiedene Formen und Formate aus- oder anprobieren. So mag die persönliche Anekdote für Intimität sorgen, Vertrauen stiften. So mögen strategisch gezeichnete Charaktere Sympathie provozieren oder Abscheu erregen. Die gedämpfte Anspielung mag für die Suggestion von Realität sorgen. Oder die Andeutung von Geheimnissen für Tiefsinn.

Literarische Freiheit und fehlende Verantwortung

Freilich: Die literarische Freiheit zeigt dabei auch ihre hässliche Seite. Sie steht auf zynischem Grund – und lehnt jede Verantwortung ab. Gess analysiert, wie die „postfaktische“ Rhetorik sich aus dem literarischen Repertoire geschickt bedient. Welchen Logiken sie folgt, was sie – allen faktischen Widerlegungen zum Trotz – so kraftvoll anziehend macht. Die Soziologie gibt darauf ebenso Antworten wie die Psychologie. Gess zeigt: auch die Literaturwissenschaft liefert einen wichtigen Baustein.

Die drei Fälle, die Nicola Gess in den Blick nimmt, sind gut ausgeleuchtet. Der Spiegel hat eine umfangreiche Recherche angestellt und die Unwahrheiten seines ehemaligen Reporters offengelegt. Auch sind die wichtigsten und häufigsten Coronalügen dokumentiert und detailliert widerlegt, teils sogar auf ihre Quellen hin untersucht. Ähnliches gilt für die rechten Dresdner Netzwerke und die Kontroversen seit der „Charta 2017“. Das ist kein Nachteil – sondern die Voraussetzung für Gess’ Programm.

Sie analysiert nicht primär Lügen, sondern schlechte Geschichten. Weil es um die Logik von Fiktionen geht, würden Faktenfinder nur bedingt weiterhelfen. Das ist eine Pointe ihres Essays. Faktenchecks beleuchten die eine Seite, zeigen Unwahrheiten und Irrtümer auf. Aber sie bekommen die andere Seite nicht in den Griff: die der Performanz. Gess will dem fiktiv-faktualen Gemisch der Beschwörungskünstler rhetorisch auf die Spur kommen: „How to do things with half-truths“.

Heute reden die Rechten wieder von der „Lügenpresse“: Die Widerlegung ist so wichtig wie heikel: droht doch ein performativer Widerspruch. Durch die Entkräftung wird die Behauptung anerkannt, wird ihr Kredibilität verliehen. Gess schlägt einen möglichen Ausweg vor. Solche Behauptungen als das zu behandeln, was sie sind: miese, kleine Geschichten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.