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Den Kindern die Angst vorm Scheitern nehmen

Psychomotoriker wollen Heranwachsenden Lust auf Bewegung machen. Der Zusammenhang zwischen Psyche und Motorik steht im Vordergrund. Geduld ist gefragt

Psycho­motorisches Training kann auch Spaß machen Foto: Jens Büttner/picture‑alliance

Von Joachim Göres

Sie stolpern beim Laufen ständig über ihre eigenen Füße. Sie trauen sich nicht zu balancieren. Sie zittern vor Angst, wenn sie von einem Kasten springen sollen. Mit solchen Kindern hat es Tanja O’Connell zu tun. Sie leitet seit vielen Jahren Psychomotorik-Kurse eines Sportvereins in Celle, nachdem sie beim Niedersächsischen Turner-Bund im Rahmen einer Fortbildung die B-Trainerlizenz gemacht hat und dort auch in Psychomotorik ausgebildet wurde. In ihre Kurse kommen Kinder mit einem ärztlichen Attest, die daneben oft auch noch zur Ergotherapie oder zur Logopädie gehen.

„Ich habe es immer mehr mit verhaltensauffälligen Kindern zu tun“, sagt die gelernte Industriekauffrau, an deren Kurs an diesem Nachmittag sechs Jungen im Alter von fünf bis 14 Jahren teilnehmen. Einige haben deutlich Übergewicht und sind wenig beweglich, andere können sich nur schwer konzentrieren. Mit ihnen läuft sie über den Sportplatz, mal mit Schuhen, mal barfuß über die Kunststoffbahn, den nassen Rasen und den Sand der Sprunggrube.

Nicht die Geschwindigkeit zählt. Der Blick der Jungen wird auf ihre Füße gelenkt – welcher Untergrund fühlt sich wie an, wenn der Fuß abgerollt wird oder sie nur auf Zehenspitzen gehen. Dann gibt es Partnerspiele, bei denen sich immer zwei Jungen einen Ball auf unterschiedliche Weise zuwerfen und dabei ihre Bewegungen koordinieren sollen. Nicht immer kommen die Bälle an, vor allem, wenn mit geschlossenen Augen geworfen wird. Das macht aber nichts. Es wird viel gelacht.

Hinter dem Begriff Psychomotorik verbirgt sich ein Konzept, das die Wechselwirkung zwischen psychischen und motorischen Prozessen aufnimmt. Dazu gehört die Überzeugung, dass ein Kind sich nur durch eigene Aktivitäten entwickelt und nur diejenigen Anregungen zu Fortschritten in der Entwicklung führen, zu denen es motiviert ist. Bewegung kann danach auch hilfreich bei Kindern mit Lese- oder Rechtschreibschwäche sein, deren Schwierigkeiten nicht durch Nachhilfeunterricht behoben werden können.

„Diese Kinder haben Defizite und erleben immer wieder Misserfolge, nicht nur beim Sport. Es geht darum, ihnen Lust an Bewegung und Erfolgserlebnisse zu vermitteln, dann trauen sie sich von alleine an Dinge ran, die sie sonst lieber vermeiden“, sagt Peter Keßel. Der Diplom-Motologe (Motologie ist die Lehre vom Zusammenhang zwischen Psyche und Bewegung) aus Osnabrück leitet Weiterbildungskurse der Deutschen Akademie – Aktionskreis Psychomotorik.

In 180 Stunden lernen die Teilnehmer, die meist als Pädagogen oder Gesundheitsexperten arbeiten, wie sie die Entwicklung von Mädchen und Jungen besser wahrnehmen, ihre Persönlichkeiten stärken und psychomotorisch mit ihnen arbeiten. Mehrere Wochenend-Workshops gehören zur Ausbildung zum Psychomotoriker. Einer davon ist der Kurs „Spielräume gestalten – Spielend lernen“, bei dem die Erwachsenen diverse Spiele selbst vorbereiten, ausprobieren und besprechen.

Beim Molekülspiel rufen sie eine Zahl zwischen 0 und 100 – je höher die Zahl, umso schneller sollen sie sich bewegen. Jeder kann das Tempo durch das Rufen einer neuen Zahl mitbestimmen. Jeder entscheidet für sich, wie langsam oder schnell er rennt, jeder testet seine eigenen Grenzen aus und tritt nicht mit den anderen in Konkurrenz.

Psychomotorische Unruhe zeigt sich in ständigem Bewegungsdrang, fehlender Dosierung der Kraft, mangelnder Kontrolle von Mimik und Gestik, geringer Ausdauer und Konzentration, mangelndem Anpassungsvermögen in Gruppen.

Bei der Psychomotorik geht es darum, die eigene Körperwahrnehmung durch abwechslungsreiche Bewegungserfahrungen zu schulen.

Studiengänge, in denen die Psychomotorik eine Rolle spielt, finden sich auf www.wvpm.org auf der Seite der Wissenschaftlichen Vereinigung für Psychomotorik und Motologie. (goe)

Beim Spiel Roter Peter haben zwei Spieler jeweils einen mit einem roten Tuch umwickelten Stab, mit dem sie einen anderen Teilnehmer berühren müssen, der dann zum Fänger wird. Die Spieler laufen auf einem vorher abgesteckten Feld quer durcheinander. „Wenn bei dem Spiel sehr langsame Kinder mitmachen, dann darf das Feld nicht zu groß sein, damit sie auch andere Kinder erwischen und bei ihnen kein Frust aufkommt“, lautet der Rat von Keßel bei der anschließenden Reflexion.

„Psychomotorik ist für mich vor allem eine Grundhaltung, genau zu beobachten, keinen Zwang auszuüben, sich Zeit zu nehmen“, sagt die Physiotherapeutin Andrea Wiesner. Sie arbeitet für die Lebenshilfe in Buxtehude in der Frühförderstelle, in der behinderte Kinder bis sechs Jahren betreut werden.

„Ein dreijähriges Mädchen bei uns hat lange nicht gesprochen. Sie ist motorisch unsicher. In dem Raum, in dem wir spielen, kann sie jetzt die Farben benennen, die es dort gibt. Ich habe sie nie gezwungen zu sprechen und bin die einzige, mit der sie jetzt spricht“, berichtet Wiesner, und wie sich die motorische Förderung positiv auf die Sprachentwicklung auswirkt. Muss ich eingreifen oder nicht? Eine Frage, die sich die Physiotherapeutin in ihrer täglichen Arbeit oft stellt und für die sie bei den zahlreichen Fallbesprechungen im Kurs Hinweise und Anregungen bekommt.

Trotz aller Förderung spielen, klettern und matschen Mädchen und Jungen heute seltener draußen oder sind seltener mit dem Fahrrad unterwegs – seit den 70er-Jahren ist die draußen verbrachte Zeit von 30 auf heute unter zehn Stunden die Woche gesunken. Für O’Connell hat das nicht nur mit der Attraktivität von Computerspielen zu tun: „Viele Eltern wollen nicht, dass sich Kinder beim Spielen dreckig machen. Und sie wollen immer die Kontrolle über ihre Kinder behalten. Das ist nicht gut für ihre Entwicklung.“