editorial
: Kein Zurück zur Tagesordnung

Gedanken zu dem rassistischen Terroranschlag am 19. Februar 2020 in Hanau
2–5, 13

Spät abends am 19. Februar 2020 laufen über Twitter die ersten Meldungen. Es gibt Schüsse in Hanau. Mehrere Tote. Von Clan-Kriminalität ist die Rede, die Polizei hat „keine gesicherten Erkenntnisse“. Am Morgen danach taucht dann ein deutscher Name auf, eine Homepage, ein Bekennerschreiben, in dem es heißt, ganze Völker müssten „komplett vernichtet werden“. Das Motiv ist damit klar, und Erinnerungen werden wach. Neun erschossene Menschen aus Familien mit Migra­tionsgeschichte, das klingt nach NSU, in nur einer Nacht. Durchatmen, heute wird ein anstrengender Tag. Ratlos sortieren wir unsere Gedanken. Ein rassistischer Anschlag diesen Ausmaßes ist für alle eine krasse Nachricht. Die Relevanz steht außer Frage. Doch die Tatsache, dass es die eigenen Geschwister hätten sein können, Freund:innen, macht den Dienst für manche von uns an so einem Tag zur Herausforderung. Wir funktionieren.

Viel Zeit blieb nicht, um das sacken zu lassen. Wir planen unsere Berichterstattung, Sonderseiten. Wer sind die Betroffenen? Wer ist der Täter? Warum wählte er diese Opfer und Tatorte? Wie kam er an seine Waffen? Und dann, als klar wurde, dass er auch an Verfolgungswahn litt: Wie viel Wahn steckte in dieser Tat, wie viel Terror? Erst am Abend dann etwas Ruhe und Abstand. Und der Gedanke: Wieder neun zerstörte Familien, neun Mal Leid, das nicht enden wird.

In den Tagen nach dem Anschlag fragen wir Menschen, die sich in der Öffentlichkeit gegen Rassismus stellen, was sie nach Hanau empfinden. Es sind immer dieselben Worte, die fallen: Wut, Trauer, Mut. Ein Jahr später, fragen wir sie wieder. Ihre Protokolle (Seite 4–5) zeigen, dass nichts wieder gut wird. Alle Beteiligten sehnen sich nach Bewältigung, nach Sichtbarmachen, danach, dass die Toten und der Anschlag nicht in Vergessenheit geraten. Genauso wie die Jugendlichen in Hanau-Kesselstadt, wie der Sozialarbeiter Günter Kugler im Interview (Seite 2) berichtet. Die Coronapandemie macht ­Trauerbewältigung noch komplizierter.

Vor einem Jahr haben wir uns vorgenommen: Kein Zurück zur Tagesordnung. Oft ist das gelungen, an vielen Tagen nicht. Rassismus ist ein Problem, das alle Menschen in Deutschland angeht. Das sollte es zumindest. Aber Fakt ist auch: Nicht alle Menschen sind gleichermaßen gefährdet.

Canset Içpınar, Konrad Litschko, Tanja Tricarico