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Die Greenscreen-Alice kommt

Statt Lockdown-Pause zu machen, zeigt das Kieler Werftpark-Theater „Alice im Wunderland“ als handgemachten Animationsfilm. Daran dürften vor allem Kinder jede Menge Spaß haben

VonJens Fischer

Sie wollen nicht Kurzarbeit null, also nichtstuend daheim sitzen, sondern spielen: am liebsten unmaskiert und zur Not auch allein. In der Hauptstadt Schleswig-Holsteins gab es jetzt mal wieder eine Möglichkeit dazu. Gemäß herrschender Abstandsgebote agierten eine Schauspielerin und zwei Schauspieler auf der Bühne des Jungen Theaters im Werftpark, das zum Greenscreen-Studio umgebaut worden war. Statt Bühnenbilder zu bauen, zu schleppen und auszuleuchten, werden sie in aller Ruhe bildnerisch gestaltet und die Schauspieler einfach ins Gemälde kopiert. Mit diesem Filmprojekt startete die Kinder- und Jugendtheatersparte des Theaters Kiel bereits im ersten Corona-Lockdown 2020 und antizipierte so die folgenden Monate des Verbots von Schauspiel­angeboten vor kopräsentem Publikum. Online ist weiterhin eben alles möglich. Mit Computertricks sind sogar Haut-an-Haut-Bühnenaktionen des Ensembles und Spielorte aller Art illusionierbar.

Passend dazu wurde ein Stoff gewählt, bei dem die Gesetze der Logik und Natur außer Kraft treten, Raum, Zeit und Identität ihre Gültigkeit verlieren und die Wirklichkeit zur elastischen Größe wird: Gemeint ist Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Dessen Nonsens-Wort- und Gedankenspielereien machten das Kinderbuch auch (und nicht nur) für Literaturwissenschaftler interessant, die philosophischen Sprachkaskaden werden noch heute in Uni-Seminaren analysiert.

Das Konzept des Theaterfilms hat nun die seit 2018 in Kiel engagierte Schauspielerin Patricia Windhab erarbeitet. Sie führte auch Regie, verantwortet den Filmschnitt und gibt die Erzählerin, die sich den weitaus größten Teil des Textes aufgebrummt hat. Strahlend lässt sie ihn in einem improvisierten Tonstudio lebendig werden. Ist ihr doch eine empathisch vitale und bezaubernd moderne Märchentanten-Diktion zu eigen. Prima strukturiert artikuliert Windhab jeden Satz und illustriert ihn mimisch. Unterbrochen nur von kurzen Spielszenen, die wie im Stummfilm mit Texttafeln und geklimperten Melodien eingeführt werden.

Urgemütlicher Realismus

Gernot Kauer gestaltete mit Feder und Pinsel die Szenerie – als eine ausgebleichte Annäherung an die Art, wie Janosch seine Geschichten von der Tigerente und dem kleinen Bär grundiert. Zu sehen ist also eher gemütlich naiver Realismus denn zinnoberndes Bilderrauschen. Auch das Kostümbild setzt auf Reduktion. Der alltagsschnieke gewandete Simon Burghart spielt das weiße Kaninchen mit weißem Hut, an dem zwei Schlappohren herumwippen. Als Taubendarsteller reichen ihm ein graues T-Shirt, ein grauer Umhang und ein schwarzer Hut. Alice (Godje Hansen) steckt in einem Kleid, das schäbig wie ein nasser Sack an ihr herabhängt. Dazu trägt sie eine gestrenge Flechtzöpfefrisur. Kein unsicheres, gewöhnlich gelangweiltes Mädel ist sie wie in so vielen schmeichlerischen Adaptionen, auch keine Lolita wie in vielen Carroll-kritischen Versionen, sondern ein entspannt burschikoses Teenie-Girl. Schwankend zwischen kess und kindlich.

Zwischen Blubberblasen fällt sie in der Animation zum Erdmittelpunkt, einem abenteuerlichen Traumreich. Das ist hübsch animiert und verweist auf die Relativität von Bewegung. Denn natürlich stürzt nicht die Darstellerin in die Tiefe, sie strampelt friedlich mit den Beinen in stabiler Rückenlage. Was sich bewegt sind die hinter ihr wegrollenden szenografischen Skizzen. Ein schönes Bild für den entspannten und sorglosen Blick des Kindes, und eine hübsche Finesse für arglos zuschauende Gleichaltrige.

Technisch überzeugend sind auch jene Tricks, die einen Schauspieler gleichzeitig in zwei oder drei Rollen in einer Einstellung nebeneinander zeigen. Sowohl Simon Burkhard als auch Sebastian Kreuzer spielen mit solchen Mehr­identitäten gern und gelungen. Zumeist bewegt sich das schauspielerische Niveau allerdings auf einem recht niedrigen Level. Man fühlt sich teilweise an Schüler­theater erinnert. Was vielleicht daran liegt, dass die Dialoge nicht miteinander aufgenommen werden konnten, da menschliche Begegnungen auf, vor, hinter und auf dem Weg zur Bühne zu vermeiden waren.

So konnten die Spielenden jeden Satz nur für sich allein in Szene setzen und wurden erst im virtuellen Raum der Videodatei mit den Kollegen zusammengebracht. Wobei Blickachsen und Größenverhältnisse nicht immer stimmen. Charmant unprätentiös gelungen aber sind Special Effects. Wenn das Kaninchen Sand am Meer aufwirbelt, lösen sich aus dem Strandgemälde kleine Sandwolken. Das fanden die Macher wohl so possierlich, dass dieser optische Gag gleich mehrmals wiederholt wird.

Entwicklung statt Trip

Carrolls Vorlage funktioniert in ihrer Mehrdeutigkeit als Sprungbrett für vielerlei Auslegungen. Auf eine diesbezügliche Offenheit wird in Kiel aber verzichtet und die konventionellste Lesart gewählt – die der Entwicklungsgeschichte. Mit jeder Begegnung auf ihrem Wunderland-Trip wird Alice mutiger und resilienter. Am Ende kann sie sogar dem tyrannischen Herzkönigspaar Paroli bieten und so schließlich deren „Kopf ab!“-Politik entkommen.

Die Kieler Alice lernt als Kind sich durchzusetzen, jugendlich den eigenen Wert zu erkennen und sich so auf die anstehende Realität der Erwachsenen vorzubereiten. Was natürlich auch bestens zum Ansatz passt, ein Stück für alle ab sieben Jahren entwickeln zu wollen. Zumindest die Beteiligten hatten bei den Dreharbeiten richtig viel Spaß, wie die Outtakes im Nachspann beweisen.

„Alice im Wunderland“ ist noch dieses Wochenende kostenlos zu sehen auf www.theater-kiel.de

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