Ljudmila Ulitzkaja über Russland: „Der Drache hat noch Zähne“

Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja sorgt sich um ihr Land. Im Gespräch erzählt sie, wie die Festnahme von Alexei Nawalny landesweite Proteste ausgelöst hat.

Portrait von Ljudmila Ulitzkaja

Hat keine Angst, die Mächtigen zu kritisieren: die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja Foto: Joel Saget/afp

taz am wochenende: Frau Ulitzkaja, Sie haben eine Petition unterschrieben, in der gefordert wird, die strafrechtliche Verfolgung von Alexei Nawalny zu beenden und die für den Giftanschlag auf ihn Verantwortlichen zu finden und zu bestrafen. Warum ist Ihnen Ihre Unterschrift darunter so wichtig?

Ljudmila Ulitzkaja: Meine Unterschrift unter Protestschreiben an die Machthaber zu setzen, die im Namen der Gesellschaft geschrieben sind, ist die einzige Möglichkeit, meine Haltung gegenüber der anhaltenden strafrechtlichen Verfolgung von Nawalny zum Ausdruck zu bringen. Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief zur Verteidigung von Juri Dmitrijew unterschrieben …

Der Historiker, der über den Stalinismus forschte, sitzt wegen angeblichem sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter ein. Men­schen­recht­ler*in­nen halten das Verfahren für konstruiert, um eine unliebsame Stimme loszuwerden.

… und davor habe ich für die Verteidigung der Verfolgten im Bolotnaja-Prozess unterschrieben, wo es um Massenanklagen nach Protesten im Vorfeld von Putins Inauguration im Mai 2012 geht. Das alles ist ein Zeugnis dessen, dass ich – wie auch so viele andere Menschen in Russland – die Politik unseres Landes gegenüber der Opposition nicht gutheiße. Die Regierenden müssen den Bür­ge­r*in­nen zuhören und dürfen ihnen nicht den Mund verbieten.

Wie bewerten Sie die Ereignisse in Russland nach der Rückkehr Nawalnys?

Die Gesellschaft ist eindeutig aktiver geworden. Ich habe selten zuvor eine so einheitliche Empörung der Zivilgesellschaft erlebt.

Früher nahmen Sie selbst an Protestaktionen teil, heute verfolgen sie die Ereignisse am Radio oder im Internet. Welche Veränderungen sehen Sie im Protestpotenzial der Menschen?

Die wichtigste Veränderung ist das Alter der Protestierenden. Sehr viele auch sehr junge Menschen sind nun politisch aktiv. Und vielleicht ist es auch der Humor – die Leute lachen nun über die „Macht“. All diese Enten und Klobürsten zeigen uns doch gerade das: Dort, wo mehr gelacht wird, gibt es weniger Angst.

Die Klobürsten wurden nun in Anspielung auf Putins Gerätschaften im goldenen Palast zum Symbol für den Reichtum der Eliten. Mittlerweile gibt es Proteste im ganzen Land, auch in kleineren Orten.

Den Herrschenden wird sehr deutlich signalisiert, dass die Gesellschaft sie nicht unterstützt. Aber für Regimekritiker ändert das leider nichts. Die Machtelite ist weiterhin nicht zu einem Dialog mit den Menschen bereit. Stattdessen nimmt sie Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen der Proteste fest – aber auch wahllos Menschen, die friedlich in der Menge stehen. Die Herrschenden werden immer grausamer.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wovor hat Putin Angst?

Keine Ahnung. Vielleicht spürt er das Ende seiner Macht kommen? Höchstwahrscheinlich baut er einen Nachfolger für sich auf, damit er ihn – wie ein Puppenspieler – aus seinem Bunker führen kann. Alle Machtorgane führen ihre Funktionen aus: Die Polizei löst Proteste auf, indem sie mit Schlagstöcken auf die Bür­ge­r*in­nen einprügelt, Richter bereiten sich auf Prozesse gegen Menschen vor, die auf Kundgebungen ­gehen. Gefängniswärter vergrößern wohl den Platz in den Haftanstalten. Was aus all dem wird, kann niemand vorhersagen.

Geben solche Ereignisse wie die Vergiftung Nawalnys, seine Festnahme am Flughafen, die Gerichtsverhandlung direkt auf einer Polizeiwache auch denjenigen zu denken, die sich vorher wenig mit Nawalny befasst hatten?

Ich selbst empfinde ein widerliches Ekelgefühl vor Führungstypen, die sich eine solche Nummer ausgedacht haben. Und ich denke, dass Millionen von Russinnen und Russen dieses Gefühl mit mir teilen.

Imponiert Ihnen, dass sich Nawalny entschieden hat, nach Russland zurückzukehren? In vollem Bewusstsein dessen, was ihn hier erwartet?

Alexei ist ein mutiger Mensch. Ich denke, dass er als Oppositionspolitiker einfach gar keine andere Wahl hatte, als zurückzukommen. Nach seiner Vergiftung nicht nach Russland zurückzukehren hätte für ihn bedeutet, seine Niederlage einzugestehen. Meiner Meinung nach hat er auf die für ihn einzig mögliche Weise gehandelt, weil es das einzig Wahre ist für eine Person mit Selbstachtung.

geboren 1943 in Dalekanowo, Basch­kirien, Ural. Sie wuchs in einer jüdischrussischen Familie in Moskau auf. Im Jahr 1983 veröffentlichte sie im Staatlichen Kinderbuchverlag ihre erste Geschichtensammlung. 1992 wurde sie mit ihrer Erzählung „Sonetschka“ über die Landesgrenzen hinaus bekannt und bekam dafür den französischen Literaturpreis „Prix Médicis“. Ihre Bücher („Die Lügen der Frauen“, „Das grüne Zelt“, „Jakobsleiter“ u. a.) sind in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt worden.

Für viele der Protestierenden – und nicht nur für sie – ist Nawalny ein Symbol …

… Alexei ist für sehr viele Menschen in Russland ein Symbol für die Unzufriedenheit mit den bestehenden Machtverhältnissen. Ich denke aber nicht, dass er die beste Alternative zu Putin ist.

Wer wäre denn eine Alternative?

An der Spitze Russlands würde ich gerne gebildete Menschen sehen. Fachleute, die keine Verbindungen zu kriminellen Strukturen pflegen, die nicht vom Dämon der Gier befallen sind. Aber ich fürchte, dass ich das nicht mehr erleben werde. Schauen wir uns doch Nawalnys neue Enthüllungen an: mörderisch! Allerdings habe ich mir die jetzigen Herrschenden, ihr moralisches Niveau und ihr ästhetisches Verständnis auch nicht anders vorgestellt.

Schriftsteller*innen, Schau­spie­ler*innen, selbst Sportler rufen mittlerweile zu Protesten gegen das System auf. Welche Rolle spielt die Kulturszene bei diesen Ereignissen?

„Kulturszene“ ist ein ­weiter Begriff, da es hier Frei­be­ruf­le­r*in­nen gibt wie mich, aber auch Künstler*innen, die vom Gehalt des Staates abhängen. Für solche Leute ist es viel schwieriger, sich zu Protesten zu äußern, gar zu demonstrieren. Ich bin in ­keiner kreativen Gewerkschaft aktiv, bin lediglich Mitglied des hiesigen PEN-Clubs. Auch den Protestbrief des Clubs habe ich unterschrieben, weil ich mich mit meinem Namen stets für die freiheitlichen Rechte eines jeden einsetze. Es gibt hier vielerlei Kulturschaffende. Die einen verehren das Regime regelrecht, die anderen sind Speichellecker; ihnen ist es egal, wer gerade der Chef ist. Und es gibt ehrliche Leute, die bereit sind, ihre wahre Meinung zu sagen. Letztlich ist es die Summe all dieser Stimmen, die entscheidend sein wird. Die „Macht“ aber wird immer ­grausamer, und niemand will in die Fänge von Sadisten und Marodeuren geraten.

Inspirieren Sie die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate in Ihrer Arbeit?

Keineswegs. Die Ereignisse sind nicht inspirierend, sie sind eher alarmierend. Wir haben gerade voller Aufregung die Ereignisse in Belarus verfolgt, waren sogar ein wenig inspiriert. Aber offenbar etwas verfrüht: Der Drache hat seine Zähne noch nicht abgenutzt. Er schluckt, kaut und verdaut perfekt. Oh, wie viel wurde bereits über die Niederträchtigkeit der Herrschenden in allen Literaturen dieser Welt geschrieben! Nein, es hilft nicht, es heilt nicht. Aber es erhellt zumindest das Bild derer, die dieses Bild auch sehen wollen.

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