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Alte Freundschaft, neu entdeckt

Das Verhalten meiner Freund:innen in der Coronakrise widerspricht komplett ihrem Charakter. Zumindest jenem, den ich bis dahin kannte

Illustration: Karoline E. Löffler

Von Simone Schmollack

Es muss sein, ich muss Willy Brandt zitieren: „In der Krise beweist sich der Charakter.“ Noch nie war dieser zur Floskel verkommene Satz des SPD-Altkanzlers so treffend wie in den Zeiten von Corona. Oder anders ausgedrückt: In der Pandemie lernt man sich neu kennen.

Mir geht es jedenfalls so. Da offenbaren sich in den vergangenen Monaten an Freund:innen Seiten, die mir bislang verborgen geblieben waren. Und das, obwohl wir uns schon sehr lange und sehr gut kennen. Nur eben ohne Krise.

Da gibt es die Freundinnen, mit denen ich bis aufs Messer streite, weil sie die Anticoronamaßnahmen und den Shutdown als unnötig empfinden und kreative Wege finden, um Regeln zu umgehen. Die in Diskussionen mit Begriffen wie Grundrechte, Demokratie und Freiheit jonglieren, aber eigentlich meinen: Ich will mich nicht einschränken, ich will trotz allem meinen Spaß.

Und es gibt die anderen. Zum Beispiel den Freund, der im Frühjahr zu mir sagte: „Was ist daran so schwer, zu Hause zu bleiben? Es wird doch mal eine Zeit lang ohne Partys gehen.“ Und die Freundin, die schon im Sommer orakelte: „In diesem Jahr muss alles ausfallen: Geburtstage, Weihnachten, Silvester, einfach alles. Ist ja wohl klar.“

Beide „Fraktionen“ überraschten mich. Denn das Krisenverhalten der Freun­d:in­nen widerspricht komplett ihrem jeweiligen Charakter. Zumindest jenem, den ich bis dahin kannte. Die Freundinnen, die jetzt vehement auf körperliche Nähe, uneingeschränkte Mobilität und „ein lebenswertes Leben“ pochen, beanspruchen sonst gern für sich Werte wie Nächstenliebe, Solidarität, Einsatz fürs Gemeinwohl. Nun aber legen sie – zumindest in meinen Augen – einen Egozentrismus an den Tag, den ich nicht für möglich gehalten hatte.

Ein solches Verhalten hätte ich, wenn überhaupt, eher den beiden anderen Freund:innen zugeschrieben. Menschen, die keine Party auslassen, die jedes noch so unbedeutende Event nutzen, um daraus ein bedeutendes Fest zu machen – mit so vielen Gästen wie möglich und so viel Glamour wie nötig. Ihr Leben: Hedonismus, Heiterkeit, Helau und Alaaf. Und nun das: Rückzug ins triste, partylose Coronaleben – ganz ohne Murren und Hadern. „Muss sein“, sagt der Freund. „Kommen auch wieder andere Zeiten“, sagt die Freundin.

Wenn das mal kein positiver Corona-Effekt ist: Freund:innen so ganz anders zu erleben als in der Vergangenheit – bei aller Bitterkeit mancher Erkenntnisse. Mit langen Freundschaften ist es nämlich wie in einer anhaltenden Beziehung: Man kennt sich in- und auswendig, man vertraut sich, man verlässt sich aufeinander – und man lässt sich gehen. Eben bis das Coronavirus an die Tür klopft.

Aber anders als in einer Beziehung ist man in einer Freundschaft nachsichtiger. Nicht unkritischer, nein, ganz und gar nicht. Man streitet unerbittlich. Aber man verzeiht eher. Das fällt viel leichter als in der Liebe. Denn „Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen und trotzdem zu uns halten“. Das sagte nicht SPD-Altkanzler Willy Brandt, sondern die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach. Sie musste es wissen, schließlich ist sie bekannt für ihr psychologisierendes Erzählen.

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