Der Unerlöste

Heute vor 100 Jahren wurde der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia geboren. Er hat das Schweigen über die Mafia nachhaltig gebrochen. Zwei Anti-Mafia-Aktivisten erzählen, was Sciascia ihnen heute bedeutet

Leonardo Sciascia, 1980 Fotos: Vittoriano Rastelli/Corbis/getty images

Von Nando dalla Chiesa

Im Herbst 2016 sollte ich an der Universität München einen Vortrag über Mafia und Literatur halten. In der Vorbereitung darauf wurde mir zum ersten Mal klar, wie marginal die Rolle der Mafia in der italienischen Literatur ist im Vergleich zum Einfluss, den sie auf die italienische Gesellschaft ausübt – und zwar seit über 150 Jahren. Noch bedrückender war die Feststellung, dass es eben die Literatur Siziliens, der Geburtsstätte der Mafia, war, die die bedeutendsten Werke zur modernen Literatur Ita­liens beigetragen hatte, mit Autoren wie Giovanni Verga, Luigi Pirandello, Giu­seppe Tomasi di Lampedusa, Andrea Camilleri und eben Leonardo Sciascia.

Wie war es möglich, fragte ich mich, dass in diesen Werken so wenig von der Mafia die Rede war? Wie wäre es etwa, wenn der Faschismus vergleichbar wenige literarische Spuren hinterlassen hätte? Es ist paradox: Die sizilianischen liberalen Eliten waren so angezogen vom Kosmopolitismus der Weltstädte Rom, London, Paris und Mailand, dass sie sich keinesfalls mit einem ‚provinziellen‘ Phänomen wie der Mafia abgeben wollten. Vom äußersten Rand Europas aus wollten sie über die gleichen Themen sprechen wie alle auf dem Kontinent; und eben gerade nicht über ein Übel, das es so nur in Sizilien gab und das doch, so die verbreitete Hoffnung, ohnehin im Aussterben begriffen war.

Die sizilianischen Intellektuellen also wollten modern sein; und indem sie die Augen verschlossen vor dem, was sich unmittelbar vor ihren Augen abspielte, verpassten sie die Gelegenheit, es auch tatsächlich zu werden. Sie hätten die Avantgarde sein können für die Schilderungen der Ereignisse, der Helden und der Schlächter, die schon bald die gesamte italienische Gesellschaft herausfordern und in Schrecken versetzen würden.

Erst nach diesen Überlegungen wurde mir die Bedeutung von Leonardo Sciascia wirklich bewusst: Er, ein Grundschullehrer aus Racalmuto, einer Kleinstadt bei Agrigent, hätte sich doch als der provin­ziellste Mensch überhaupt fühlen müssen. Stattdessen schrieb er 1961, als 40-Jähriger, mit „Der Tag der Eule“ einen internationalen Bestseller über die Mafia in seiner Heimat.

Gerade indem Sciascia die Mafia in den Mittelpunkt des Geschehens stellte, zeigte er sich der Moderne gewachsen. „Der Tag der Eule“ wurde zum einzig verfügbaren literarischen Bezugspunkt der sich Ende der 1970er Jahre in Palermo neu formierenden Anti-Mafia-Bewegung von jungen Intellektuellen. Der Roman hat Epoche gemacht, weil er das Schweigen über die Mafia bricht, eben indem er die „omertà“ als Massenphänomen zeigt. Den Wandel der Mafia von der Verwurzelung in der bäuerlichen Welt hin zum Big Business der Konsumgesellschaft analysiert der Roman mit einer Präzision, wie man sie aktuell in Prozessakten zu den Aktivitäten der ’Ndrangheta wiederfinden kann. Der Boss, Don Arena, zeigt seine Macht vollkommen offen, an der Strategie, Mafiagegner und Zeugen zu verleumden, hat sich nichts geändert. Dazu kommt das fortgesetzte Interesse der Politik, die auf die von der Mafia gelieferten Stimmenpakete nicht verzichten will. Seine Erkenntnisse über die tödlich-moderne Energie der Organisierten Kriminalität brachte Sciascia schließlich auf die Formel, die mafiöse „Linie der Palme“ werde jedes Jahr 500 Meter weiter nach Norden wandern: eine Entwicklung, die auch durch die Alpen nicht gestoppt werden konnte.

Moralische Instanz

Leonardo Sciascia

wurde am 8. Januar 1921 in Racalmuto, Provinz Agrigent, auf Sizilien geboren. 1949 wurde er Volksschullehrer, 1970 ließ er sich pensionieren und widmete sich ganz dem Schreiben und der Politik.

1975 wurde er als Unabhängiger auf der Liste der Kommunistischen Partei in den Stadtrat von Palermo gewählt. 1979 wurde Sciascia Abgeordneter der Radikalen Partei im italienischen Abgeordnetenhaus. Er war Mitglied des Untersuchungsausschusses zur Entführung und Ermordung des Chefs der Christdemokraten Aldo Moro durch die linksradikale Terrororgani­sation Rote Brigaden im Frühjahr 1978.

Leonardo Sciascia starb am 20. November 1989 in Palermo.

Werke

Sciascias bekanntester Roman „Der Tag der Eule“ (1961) liegt auf Deutsch im Wagenbach-Verlag vor. 1968 wurde er von Damiano Daminani verfilmt wie auch zahlreiche andere seiner über 40 auf Italienisch verfügbaren Bücher.

Nando dalla Chiesa

71, ist ein italienischer Soziologe, Schriftsteller und Politiker. Er ist Gründer und Leiter der 2013 ins Leben gerufenen Beobachtungsstelle für Organisierte Kriminalität in Mailand, dem Osservatorio sulla criminalità organizzata dell’Università degli Studi di Milano (Cross).

Nando dalla Chiesa ist der Sohn von Carlo Alberto dalla Chiesa, einem General der Polizeitruppe Carabinieri, der am 3. September 1982 von der Mafia in Palermo ermordet wurde.

Claudio La Camera

ist Theatermacher und Anti-Mafia-Aktivist in Kalabrien und auf Sizilien. Er war für die UN und für NGOs in Mexiko in der Bildungsarbeit für eine Kultur der Legalität und gegen Organisierte Kriminalität tätig. waam

Als Schriftsteller hat Sciascia sich nach „Der Tag der Eule“ weiter mit der Mafia beschäftigt; aber er wurde gleichzeitig zu einer moralischen Instanz für das ganze Land. Sciascia klagte die dunklen Geheimnisse einer Politik an, die dem Ansehen der Institutionen schweren Schaden zufügten. Dabei, sagen auch Freunde wie der Schriftsteller Erri de Luca, verlor er als Schriftsteller, was er als Person des öffentlichen Lebens, als Politiker gewann. Sein radikaler Antikonformismus machte ihn nicht unbedingt hellsichtiger für das, was wirklich zählt.

In Erinnerung geblieben ist hier vor allem seine Polemik gegen die Anti-Mafia-Bewegung, mit dem Vorwurf, deren Protagonisten engagierten sich aus opportunistischen Motiven. Den Ermittler Paolo Borsellino zählte Sciascia in seinem berüchtigten Artikel „I profes­sio­nis­ti dell’antimafia“ vom 10. Januar 1987 im Corriere della Sera in diesem Zusammenhang unter die Karrieristen. Eine grauenhafte Prophezeiung: Fünf Jahre später wurde Borsellino von der Mafia in die Luft gesprengt, in einem der schlimmsten Attentate der italienischen Geschichte. Den jungen, linken Aktivist:innen, die sich in Palermo gegen die Mafia engagierten, warf Sciascia vor, nicht zu verstehen, dass die Stadt „unerlösbar“ sei, auf ewig mit dem Organisierten Verbrechen verknüpft, mit genau demselben Wort, das schon Tomasi di Lampedusa in seinem Welterfolg „Der Leopard“ für ganz Sizilien verwendet hatte.

„Unerlösbar“: ein Wort, das Veränderung ausschließt. Dieser Widerspruch zwischen radikaler Aufklärung und absoluter Hoffnungslosigkeit bleibt in Sciascia unauflösbar – bis heute.