Wohnungslos im Corona-Winter: Zusammenrücken ist keine Option
Wohnungslose und ihre Helfer sind in einer schwierigen Lage. Sowohl die Aufnahme als auch das Abweisen von Menschen kann deren Tod bedeuten.
Makaras Kalašnikov steht abseits von den anderen Wartenden. Vor der Notunterkunft der Berliner Stadtmission in der Nähe des Hauptbahnhofs dreht er sich eine Zigarette. Die Mütze hat er tief ins Gesicht gezogen, darüber sitzt die Kapuze seiner Jacke. Er trägt eine glänzende Daunenjacke, seine Turnschuhe sehen aus, als wären sie frisch geputzt. Kalašnikov sagt: „Seit drei Wochen bin ich auf der Straße. Es ist beschissen. Mir tun die Füße weh. Den ganzen Tag nur laufen, laufen, laufen. Nichts ist offen.“
Bis vor wenigen Wochen hatte er noch einen Job als Programmierer, erzählt er. Dann hat er sich heftig mit seiner Ex-Freundin gestritten, es ging um Eifersucht. Am Ende hat er seine Sachen gepackt und ist abgehauen, hat ein paar Nächte bei Kumpels geschlafen. Aber er will dort nicht weiter stören. Seit er auf der Straße ist, ist auch sein Job weg. Kalašnikov blickt sich um. Es ist etwa 22 Uhr an einem Novemberabend mit knapp über null Grad. Seit die Unterkunft um 20 Uhr geöffnet hat, ist die Schlange kaum kürzer geworden.
Für die meisten wohnungslosen Menschen ist dieser Winter vermutlich besonders hart. Wie schlimm es wird, kommt darauf an, in welcher Stadt oder Kommune sie leben – die sind nämlich verantwortlich für die Unterstützung von Wohnungs- und Obdachlosen. In Berlin sind die Hilfseinrichtungen relativ gut vorbereitet, in vielen anderen Städten und Kommunen dagegen sieht es düster aus. Denn wie viel Hilfe die sozialen Träger wie die Caritas oder die Evangelische Stadtmission bereitstellen können, hängt davon ab, mit welchen Summen die Kommunen sie finanziell unterstützen.
Schon in normalen Wintern ohne Corona gibt es, besonders in großen Städten, wenige Orte, an denen sich wohnungslose Menschen tagsüber aufwärmen können, nachts sind die Notübernachtungen oft überfüllt. Doch im Coronawinter ist Zusammenrücken keine Option. Im Gegenteil: Um die Ansteckungsgefahr zu verringern, öffnen die meisten Tagesaufenthalte gar nicht erst und die Notübernachtungen belegen nicht alle Betten, die sie haben. Und wenn sich trotz der Maßnahmen eine größere Zahl der Menschen ansteckt? Dann dürften die meisten Städte ein Problem haben.
Nicht ausreichend vorbereitet
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., der Dachverband der Hilfseinrichtungen für wohnungs- und obdachlose Menschen, hat mehr als 1.600 Einrichtungen bundesweit gefragt, ob die Kommunen „mit Blick auf den Winter und eine mögliche zweite Coronawelle“ vorgesorgt haben. Von den 500, die geantwortet haben, sind 40 Prozent der Meinung, dass ihre Kommune nicht ausreichend auf die Herausforderungen des Winters vorbereitet sei. Weitere 40 Prozent wissen erst gar nicht, wie ihre Kommunen planen, die Obdachlosenhilfe zu unterstützen. Nur 20 Prozent finden, ihre Kommunen seien gut vorbereitet.
„Konkret bedeutet das, dass eine signifikante Zahl von Einrichtungen entweder mehr Menschen abweisen oder sie ohne Schutzmaßnahmen aufnehmen muss“, sagt die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft, Werena Rosenke. „Beides sind schlechte Optionen, weil sie im Zweifel Tote bedeuten.“ Außerdem gebe es in den meisten Städten zu wenig oder gar keine Quarantäneplätze für Menschen von der Straße.
In Berlin gibt es zumindest einen Plan für die restlichen Wintermonate. Anfang Dezember hat Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) angekündigt, die bisherigen zwanzig Quarantäneplätze in der Notunterkunft nahe dem Hauptbahnhof auf bis zu 120 Plätze aufzustocken. Ein Nadelöhr sei hier allerdings das Personal und nicht die Finanzierung, teilte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Soziales der taz mit.
Mehr Menschen als Plätze
Zusätzlich zu einer Einrichtung der Stadtmission mit Sozialberatung und siebzig Plätzen, die auch tagsüber geöffnet ist, soll eine weitere Notunterkunft künftig auch tagsüber öffnen und weiteren hundert Menschen Schutz vor der Kälte bieten. Dazu hat das Berliner Hofbräu-Haus seit Mitte Dezember als Tagesaufenthalt für achtzig Menschen offen. Das klingt gut, aber in Berlin leben viel mehr Menschen auf der Straße: nach einer Zählung des Berliner Senats im Januar mindestens 1.976 Menschen, wahrscheinlich mehr. Deswegen versorgen zusätzlich verschiedene Träger die Menschen draußen mit Essen.
Die Stadtmission zum Beispiel schickt nun jeden Abend den Suppenbus auf Tour. Mitarbeiter*innen der Stadtmission transportieren darin Kaffee, Tee und warmes Essen in großen Thermosbehältern. Außerdem lagern hier einige Schlafsäcke und Isomatten. Jeden Dienstag von 19 bis 23 Uhr sitzt Kelly Lüdeking auf dem Beifahrersitz. Sie ist 26 Jahre alt und tagsüber Projektmanagerin in einem Onlinehandel. Wenn der Bus an einem Abend im November unter einer Brücke in Charlottenburg hält, springt Kelly raus und und fragt die Menschen, ob sie etwas brauchen: Essen, Trinken, einen Schlafsack? „Seit ich hier arbeite, gehe ich anders durch die Stadt. Ich achte immer darauf, ob irgendwo jemand liegen könnte“, sagt Kelly.
Die meisten von denen, die unter einer der Brücken in Charlottenburg schlafen, haben sich hier Lager aufgebaut mit Matratzen, Teppichen und kleinen Tischen. Die Brücken sind breit, deswegen ist es trocken – aber es ist hell: Die ganze Nacht scheint das Licht von Neonröhren auf die Menschen. Dazu kommt der Lärm der Lkws und Autos, die vorbeifahren. Fragt man die Menschen hier, warum sie nicht in einer der Notunterkünfte schlafen, lautet die Antwort fast immer: „Zu viele Menschen. Zu aggressiv.“
Corona drückt aufs Gemüt
Die Pressesprecherin der Stadtmission, Barbara Breuer, bestätigt, dass es in den Unterkünften oft rau zugeht – obwohl Alkohol, Drogen und Waffen verboten sind. „Aber viele trinken sich eben vorher einen Pegel an, damit sie die Nacht überstehen“, sagt Breuer. Sie erzählt, dass es jetzt, in den Wintermonaten des Coronajahres, schlimmer geworden sei mit der Aggressivität. Neulich habe einer das Fenster vom Suppenbus eingeschlagen. Die Situation drücke allen aufs Gemüt. Wie im Rest der Gesellschaft gebe es Personen, die das Virus ernst nehmen, und solche, die das nicht tun.
Die Situation im Coronawinter erschwert die Versorgung von Wohnungs- und Obdachlosen, und Menschen wie Breuer und Rosenke klagen, dass die Bundesregierung zu wenig tue. „Obdachlose wurden einfach komplett vergessen“, sagt Breuer von der Stadtmission. Werena Rosenke sieht es ähnlich. Ihre Organisation hat bereits Ende Oktober ein Papier veröffentlicht, in dem Bund und Länder aufgefordert werden, Maßnahmen zum Schutz von Wohnungslosen zu verabschieden. Darunter ist unter anderem die Forderung, Schnelltests in Notunterkünften einzuführen.
Auf Anfrage der taz verwies eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales darauf, dass die Verantwortung für die Unterbringung und Versorgung von Obdachlosen bei den Kommunen liege. Außerdem habe man die Kommunen „durch eine Vielzahl von Maßnahmen an anderer Stelle massiv unterstützt“. Das Ministerium habe ein Forschungsprojekt zu den Auswirkungen der Pandemie auf Wohnungsnothilfen finanziert – als Ergänzung zu einem Forschungsbericht über Entstehung, Verlauf und Struktur von Wohnungslosigkeit.
Rosenke reicht das nicht, vor allem im Hinblick auf Infektionen unter Obdachlosen. „Bislang haben wir Glück gehabt, in der Wohnungshilfe gab es bislang kein großes Infektionsgeschehen“ sagt Rosenke. Aber: „Niemand kann sagen, ob das so bleibt.“
In der Notunterkunft am Berliner Hauptbahnhof testet medizinisches Fachpersonal bereits seit Anfang Oktober mit Schnelltests alle auf Corona, die in der Unterkunft schlafen wollen. Für die Unterkunft bedeutet das 20.000 Euro zusätzliche Kosten, die die Stadtmission bislang selbst aufbringen musste. Nun will der Senat jedoch diese Kosten übernehmen – und zwar in allen Berliner Unterkünften bis einschließlich März.
Makaras Kalašnikov tritt von einem Fuß auf den anderen und schüttelt seine Beine aus. Wegen der Tests dauert in der Unterkunft der Stadtmission heute alles etwas länger. Aber er hat Verständnis für die Maßnahmen. „Ich will kein Corona bekommen“, sagt er. „Ich habe Angst. Ich habe keine Wohnung, was passiert, wenn ich das kriege?“ Solange er in Berlin bleibt, würde er vermutlich auch ein Bett auf der Quarantänestation in Berlin bekommen. Aber nicht überall in Deutschland ist man auf den Ernstfall vorbereitet.
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